© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
Tiefsinn des Herzens
Frank Noack: Veit Harlan. Des Teufels Regisseur
Doris Neujahr

Nachdem zuletzt über Leni Riefenstahl (von Rainer Rother) und Gustaf Gründgens (von Peter Michalzik) kluge Bücher erschienen, hat jetzt der Regisseur Veit Harlan im Berliner Filmkritiker Frank Noack seinen ersten Biographen gefunden. Wie Rother und Michalzik ist Noack Film- und Theaterwissenschaftler um die vierzig. Seine Generation scheint zu erkennen, daß der Nimbus dieser Künstler sich nicht länger in gängigen Kategorien wie "ablenkende Unterhaltung", "Propaganda" oder "ästhetisierter Faschismus" erfassen läßt. Darum stellen diese Autoren die Frage nach den ästhetischen Strategien und Potentialen völlig neu.

Noack beginnt seine Harlan-Exegese mit der provokanten Frage: "Individualist in einem totalitären Staat?" Am Ende bejaht er sie und setzt sich damit in Widerspruch zur Einheitsmeinung bundesdeutscher Individualisten, wonach es kein richtiges Leben im falschen gibt und alle nur Vollstrecker des Einen waren. In dieser Logik darf auch von der deutschen Kunstproduktion zwischen 1933 und 1945 nur zählen, was außerhalb der Grenzen entstand. Von den vielen Kurzschlüssen, die in dieser Rechnung enthalten sind, nur zwei: Der erste ist der Glaube, daß jeder Exilant per se moralischer handelte als ein Dagebliebener. Der zweite, gravierendere ist die naive Annahme, daß der Bessergesinnte auch automatisch der größere Künstler ist. In der Folge wurden Traditionsbestände deutscher Provenienz: Romantik, Metaphysik oder Innerlichkeit – letztere umschrieb Thomas Mann mit "Tiefsinn des Herzens, unweltliche Versponnenheit, Naturfrömmigkeit" – abgeräumt zugunsten einer kritischen, politisch engagierten Kunst, die gejagt wird vom "Fluch der Schuld (...) als Werkzeug der Einschüchterung von links". (H. J. Syberberg)

Die aktuellen Publikationen richten sich – ob gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt – gegen das Monopol einer staatstragenden, von Subventionsgremien ausgehaltenen Theater- und vor allem Filmproduktion. Spiegelbildlicher, signifikanter Ausdruck für die Schwäche des deutschen Gegenwartsfilms ist sein Mangel an Publikum. Was heute wie eine Goebbelsche Mär klingt – damals war’s, dank Harlan, Ereignis: Das deutsche Melodram, dessen Zuschauer sich in Millionen rechneten. Selbst wenn man das veränderte Rezeptionsverhalten und die neue Medienvielfalt bedenkt, erscheint der Zuspruch, den "Die Reise nach Tilsit" (1939), "Die goldene Stadt" (1942), "Immensee" (1943) oder "Opfergang" (1944) fanden, im Vergleich zu heutigen Zuschauerzahlen überwältigend. Und Harlans Melodramen waren sehr deutsch: Die Lichteffekte erinnern an C. D. Friedrich, die betörenden Landschaftsbilder an Storm, die suggestiven Filmmusiken sind Popularversionen von Wagner und Strauss, und die wuchtigen Plots lassen an einem erdigen Naturalismus à la Hauptmann und Sudermann denken. Und eben deshalb waren Harlan-Filme auch im Ausland begehrt.

Man vergleiche nur den – keineswegs perfekten – Harlan-Streifen "Opfergang" mit dem "Unhold"-Film des unbestrittenen Könners Volker Schlöndorff. Letzterer geriet zu einem faden Fiasko, obwohl die Roman-Vorlage von Michel Tournier alles bot, was das Herz eines Regisseurs begehrt: eine packende Fabel, einen spannenden geschichtlichen Hintergrund, eine phantastische Mythologie. Der Vergleich enthüllt den tiefsten Grund für Schlöndorffs Scheitern, nämlich den fehlenden Mut, seinem Stoff zu vertrauen, sich, wie Harlan, an ihn zu verlieren. Aus Angst vor der adorno-habermas’schen Zuchtrute trauen geprügelte Hunde sich nicht mehr, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und liefern statt dessen deren historiographisch-korrekte Deutung, sprich: gutmenschelnden Kitsch. Das kulturelle Deutschland, früher "magisch und unheilbringend zugleich, heute ist es banal geworden", schrieb die einstige Mitterrand-Dolmetscherin Brigitte Sauzay Mitte der achtziger Jahre.

Diese Banalität hat zu tun mit einem verengten Erbe-Begriff. Es kommt einer kulturellen Selbstverstümmelung gleich, Veit Harlan allein auf den Film "Jud Süß" (1940) und die – im Grunde harmlosen – Durchhalteepen "Der große König" (1942) und "Kolberg" (1945) zu reduzieren und im übrigen dem Orkus zu überantworten. Denn Harlans beste Filme vermitteln neben enormen technischen Fertigkeiten auch die Möglichkeiten exzessiven Erzählens.

Geboren wurde er 1899 in Berlin als Sohn des Schriftstellers Walter Harlan. Bereits als Kind war er ein Theatermaniak. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg absolvierte er ein Schauspielvolontariat an der Berliner Volksbühne. Noack widerlegt die Legende, er sei ein erfolgloser Darsteller gewesen, der sich deshalb 1933 ins Regiefach und in die Arme von Goebbels geflüchtet habe. In Wahrheit war er an Haupstadtbühnen engagiert und erhielt gute Kritiken. Doch der Egomane Harlan wollte absoluter Herr über seine Ausdrucksmittel und nicht bloß reproduzierender Künstler sein. Sein Wechsel ins Regiefach war folgerichtig.

Noack demontiert noch eine weitere Legende: Die Filmproduktion in Deutschland nach 1933 war keineswegs einfach die Erfüllungsgehilfin des NS-Staates. Sie war weiterhin privatwirtschaftlich organisiert, profitorientiert und damit auf Zuschauer angewiesen. Deutschland blieb nach den USA das produktivste Filmland. Weil sich schnell herausstellte, daß die Kinobesucher keine proletarischen SA-Leute oder platte Parteipropaganda sehen wollten, blieben NS-Heldenepen auf der Leinwand die Ausnahme. Die männlichen Ufa-Stars waren Salonlöwen oder elegante Liebhaber, keine germanischen Recken, und die verruchte Zarah Leander hätte in einem Nähkurs der NS-Frauenschaft völlig deplaciert gewirkt.

Mit den Filmen "Kreutzersonate" (1936, nach Leo Tolstoi) und "Der Herrscher" (1937, nach Gerhart Hauptmann) erreichte Harlan im In- und Ausland den Durchbruch. Im "Jugend" (1937) übernahm erstmals Kristina Söderbaum, seine spätere Frau, die Hauptrolle. Es ist leicht, Harlan eine Fülle von Konzessionen an die Staatsideologie nachzuweisen. Doch sein Erfolg wurzelte anderswo, in seinem Gespür für suggestive Bilder und Farbkompositionen, für die emotionale Wirkung von Musik sowie in den virtuosen Montagen und genialen Überblendungen. Er schuf einen ästhetischen Zwischenraum, der für Zensoren zwar nicht greifbar war, für die Zuschauer jedoch erkennbar blieb.

Der Untertitel der Biographie, "Des Teufels Regisseur", nimmt Harlans Selbstbeschreibung als Protegé des Propagandaministers auf: "Goebbels war der Teufel selbst, aber der Teufel hat wenig Macht über eine Seele, die sich ihm verschließt." Nun war Harlan weder Nationalsozialist noch Antisemit, sondern ein besessener, ja fanatischer Regisseur, der selbstherrlich durch die meisten Türen ging, die Goebbels ihm öffnete. Soviel Autonomie, wie er im Zitat in Anspruch nimmt, besaß er jedoch nicht. Denn während Göring gegenüber seinem Theaterleiter Gustaf Gründgens gönnerhafte Bonhomie an den Tag legte, die Zügel schleifen ließ und die Kunst vor allem als Zubehör seiner barocken Selbstpräsentation betrachtete, wurde Goebbels nicht zuletzt vom Ehrgeiz des verhinderten Künstlers getrieben. Die Filmleute betrachtete er als seine Werkzeuge. In "Jud Süß" und "Die goldene Stadt" befahl er gerade jene Änderungen, die Harlan bis heute übel vermerkt werden, und für "Kolberg" konzipierte er sogar die propagandistische Rahmenhandlung.

Harlan, so will eine andere Legende wissen, hätte sich 1933 aus Karrieregründen von seiner ersten, jüdischen Ehefrau scheiden lassen. So soll der "Jud Süß"-Film in der Biographie des Regisseurs verankert werden. In Wahrheit erfolgte die Scheidung schon 1924 und ging von Dora Gerson aus, deren orthodoxe Familie den "Goi" Harlan ablehnte. Noack wagt sich sogar an das heiße Eisen "Jud Süß" und unterzieht den Film einer kühl-sezierenden Analyse. An der antisemitischen Stoßrichtung und Wirkung dieses Streifens besteht kein Zweifel. Noack weist aber – auch unter Berufung auf die englischsprachige Filmliteratur – nach, daß die Juden hier pardoxerweise würdiger, eigenständiger, charismatischer dargestellt sind als im prosemitischen "Jud Süß"-Film, der in den dreißiger Jahren in England gedreht wurde. Der Künstler Harlan konterkarierte selbst hier noch den politischen Befehlsempfänger. Heute möchte niemand mehr wahrhaben, daß auch im Ausland, etwa im unbesetzten Frankreich, die Zuschauer en masse in die "Jud Süß"-Vorstellungen strömten.

Insgesamt ist im Buch zuviel vom Trieb und zu wenig von Transzendenz die Rede. Das Wasser, das sich in "Opfergang" parallel zum Tod von Aels durch das Gartentor ergießt, ist nicht bloß, wie Noack meint, ein sexuelles Symbol, sondern auch eines für die Zeitlichkeit des Menschen und seinen Übergang in eine andere, metaphysische Dimension.

Die Biographie ist vor allem ein Filmbuch. Sie enthält viel Bildmaterial und ganze Sequenzen, die die filmtechnischen Erläuterungen anschaulich illustrieren. Noack breitet eine Unmenge Fakten über Harlans Schaffen aus, manchmal zuviel, als wollte er zeigen, daß er wirklich jede Szene verstanden und jede Filmkritik gelesen hat. Die Lebensumstände und das Charakterbild Harlans kommen darüber zu kurz. Ausnahmen sind die Passagen über das Entnazifizierungsverfahren und den Prozeß, der gegen Harlan wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit angestrengt wurde. Anhand der zitierten Pressestimmen kann man den Eindruck gewinnen, nicht Hitler, Himmler und Goebbels, sondern Harlan habe Deutschland zwölf Jahre lang regiert. Das Verfahren endete 1950 in zweiter Instanz mit einem Freispruch.

Noack empört sich zu Recht, daß die Rachefurien, die sich bis heute auf Harlan stürzen, über die filmischen Handreichungen eines Sergej Eisenstein zum Massenmord Stalins an russischen Bauern großzügig hinwegsehen.

Harlan, so das Fazit, sei es gelungen, "als Künstler ein Original zu sein". In dieser Eigenschaft ragt er aus der Zeit des Dritten Reiches ins Heute hinüber. Man muß es unendlich bedauern, daß Stanley Kubrick, der mit einer Harlan-Nichte verheiratet war, seinen Plan, einen Film über das Leben in Deutschland zwischen 1933 und 1945 aus der Sicht Veit Harlans zu drehen, nicht verwirklicht hat. Frank Noack hat, trotz einiger kritikwürdiger Details, ein großartiges Buch, ein Standardwerk, verfaßt. Hoffen wir, daß es eine neue, souveräne Beschäftigung mit Veit Harlan einleitet. Denn über eine Unzahl Regisseure, die sich mit Harlan messen und darauf verzichten können, von ihm zu lernen, verfügt Deutschland nun wirklich nicht.     

Frank Noack: Veit Harlan. Des Teufels Regisseur. Belleville Verlag, München 2000, 483 Seiten,zahlr. Abb., 78 Mark


 
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