© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
PRO&CONTRA
Sind "Graffiti" Kunst?
Norbert Siegl / Paco Oliver

Graffiti sind weit mehr als "Kunst". Sie sind heute als eigenständige Kultur- und Kommunikationsform anerkannt und entstehen immer "ungefragt" im öffentlich zugänglichen Raum. Ihre Erforschung ist ein internationales wissenschaftliches Anliegen. Zu diesem Zweck enstand hier in Wien mit dem Institut für Graffiti-Forschung die erste institutionalisierte Forschungsstätte auf diesem Gebiet und mit der Website http://graffiti.netbase.org wurde eine europäische Informationsstelle zum Thema eingerichtet, um Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen ein Forum zu bieten.

Es gilt als gesichert, daß Graffiti die älteste Kommunikationsform und ein integrierter Bestandteil der Menschheitskultur sind und daß sich immer jene Gruppen über Graffiti und die freie Kommunikation im öffentlichen Raum "zu Wort" melden, deren Anliegen ansonsten unterrepräsentiert sind. Also vor allem Gruppen, die extremere und/oder innovative gesellschaftliche Positionen vertreten – meist junge Menschen. Die spezielle Form der Sprayer-Kultur, die immer wieder die Gerichte beschäftigt, ist erst seit etwa 30 Jahren bekannt und die jüngste der Graffiti-Varianten. Hier findet man den Versuch Jugendlicher, ihre Anliegen künstlerisch zu "veredeln", gestaltend in die Umwelt einzugreifen und so auf sich aufmerksam zu machen.

Inzwischen sind die Sprayer als attraktiver Markt entdeckt, und die Farbenindustrie verkauft deklarierten Graffiti-Lack in Spray-Dosen. Die Motive der Graffitisten fanden Eingang ins Repertoire der Werbegrafik, Aerosol-Art wird in Kunstakademien unterrichtet und einigen Sprayern gelang es, als Künstler anerkannt zu werden. Um so zwiespältiger ist es, daß diese Formen der Jugendkultur immer wieder Anlaß zu existenzbedrohenden Strafen geben. Diese Kulturform nur unter juristischen Aspekten betrachten zu wollen, stellt eine unzulässige Einengung dar. Vielmehr sollte der Gestaltungswille Jugendlicher als Recht anerkannt sein, solange dabei nicht die öffentliche Sicherheit gefährdet ist.

 

Mag. Norbert Siegl ist Projektmanager des Institutes für Graffiti-Forschungen in Wien.

 

 

Eine Graffitiattacke kann über Nacht eine gepflegte Straße in eine heruntergekommene verwandeln. Ein mit Graffiti "verschönerter" Stadtteil wirkt nicht lebendiger, sondern als wäre er von seinen Bewohnern aufgegeben worden. Aus dieser Einleitung geht wohl schon hervor, daß Graffiti aus der Sicht der betroffenen Hauseigentümer unerwünscht sind. Rechtlich ist die Lage klar: Gegen den Willen des Eigentümers angebrachte Graffiti stellen eine Sachbeschädigung im Sinne des Strafgesetzbuches dar und werden auf Antrag bestraft. Daß die Absicht des Sprayers möglicherweise nicht eine Schädigung, sondern vielmehr eine Verschönerung war, spielt rechtlich keine Rolle. Entscheidend ist, daß er sie ohne die Zustimmung des Eigentümers ausgeführt hat. Insofern stellt sich die Frage, ob Graffiti Kunst sind, unter rechtlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht. Selbst wenn es sich beim Sprayer um Michelangelo persönlich handelte, hätte er nicht das Recht, fremdes Eigentum von sich aus umzugestalten. Die gestellte Frage liegt auf einer ganz anderen, vom Recht völlig unabhängigen Ebene. Zweifellos können Graffiti einiges über unsere Zeit aussagen und insofern ein Dokument mit kultureller Bedeutung im allerweitesten Sinne darstellen. Das trifft auch auf die aus der Antike erhalten gebliebenen Kritzeleien (Graffiti) an Hauswänden und in öffentlichen Toiletten zu. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß sie als Kunst zu bezeichnen sind.

Was Kunst ist, definiert bekanntlich jeder Kulturkreis, jede Epoche anders. Insofern ist nicht auszuschließen, daß einzelne Graffiti aus einer ganz bestimmten Optik heraus als Kunst verstanden werden. Offenbar kommt das Sprayen ohne eine gewisse subversive Komponente nicht aus, weshalb wirklich gute legale Graffiti eine Seltenheit sind. Übrigens: Beim überwiegenden Teil aller Graffiti handelt es sich um nichts anderes als elende Schmierereien, die auch so genannt werden sollten.

 

Paco Oliver ist Jurist und Kommunikationsbeauftragter des Hauseigentümerverbandes Zürich.


 
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