© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/01 13. April 2001

 
Ein Sieg für die Familie
Bundesverfassungsgericht: Schwere Vorwürfe gegen Sozialgesetzgebung
Mina Buts

Gerade noch hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder verkündet, daß es "vielleicht die wichtigste und großartigste Aufgabe jeder Gesellschaft" sei, Kinder großzuziehen. Die Familienpolitik müsse in Deutschland wieder einen höheren Stellenwert erhalten, und schließlich sei ein "gerechter Ausgleich zwischen den Generationen zu schaffen, damit die Sicherheit für die Älteren nicht zur unbezahlbaren finanziellen Belastung der jungen Arbeitnehmer wird".

Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat ihm nun jedoch die Schau gestohlen: Es sei nicht mit dem grundgesetzlichen Schutz der Familie zu vereinbaren, wenn Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, einen genauso hohen Beitrag zahlen müßten wie Versicherte ohne Kinder. Für Eltern müsse es einen Beitragsrabatt geben, und zwar nicht erst in ferner Zukunft, sondern spätestens ab dem Jahr 2004. Ausdrücklich wiesen die Richter darauf hin, daß die Bedeutung dieser Entscheidung auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sei: Wer aufgrund von Kindererziehung bei der Pflegeversicherung entlastet wird, dem muß solches erst recht bei der Rentenversicherung widerfahren.

Wie in den vergangenen Jahren so oft waren es erneut die Karlsruher Verfassungsrichter, die sich als die vehementesten Hüter und Wahrer der Institution Familie zeigten. Hatten die Christdemokraten bei ihrem Amtsantritt 1983 großzügig die Bemessung des Kindergeldes vom Familieneinkommen abhängig gemacht, so erklärte das Verfassungsgericht einige Jahre später diese Regelung für unzulässig: Das Kindergeld diene indirekt der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums für Kinder – das Erwachsenen längst zugestanden wurde – und könne daher nicht von der elterlichen Vermögenssituation abhängig gemacht werden. Eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes oder wahlweise des Kinderfreibetrages, unabhängig vom elterlichen Verdienst, war die Folge. Auch in der Rentenpolitik gab es mit dem "Trümmerfrauen"-Urteil von 1992 klare Vorgaben aus Karlsruhe zugusten der Frauen. Seither erhalten Frauen für jedes Kind, das sie erzogen haben, einen Bonus bei der Berechnung ihrer Rente.

Auch andere Schieflagen in der Familien- und Sozialpolitik wurden von Karlsruhe aus korrigiert: Während Alleinerziehende in der Vergangenheit Kinderbetreuungskosten steuerlich geltend machen konnten, galt dies für verheiratete Eltern nicht. Lippenbekenntnisse der verantwortlichen Politiker, Familie und Beruf müßten besser miteinander vereinbar sein, gab es zwar genügend, doch hinter vorgehaltener Hand erhielt man die Auskunft, die Berufstätigkeit beider Elternteile sei weder erwünscht noch arbeitsmarktpolitisch verkraftbar. Es war aus dieser Sicht nur konsequent, wenn es keinen einzigen Anlauf gab, die offenkundigen Ungerechtigkeiten zwischen verheirateten und unverheirateten Eltern zu beseitigen. Erst seit diesem Jahr kann nach einem 1999 gefällten Urteil jeder Erziehende einen Betreuungsbedarf geltend machen, der nach der Kinderanzahl gestaffelt ist und unabhängig davon gewährt wird, ob tatsächlich Kosten für Kinderbetreuung entstehen. Im kommenden Jahr wird es zusätzlich einen Haushaltsfreibetrag für Familien geben, auch dieser soll von der Kinderzahl abhängen.

Das jetzt gefällte Urteil zur Pflegeversicherung wird bislang kaum diskutierte weitreichende Folgen für das gesamte Sozialversicherungssystem haben; denn nicht nur bei der Pflege-, sondern vor allem bei der Rentenversicherung ist die angemahnte familienfreundliche Komponente bislang völlig unzureichend. Während es in der gesetzlichen Krankenversicherung immerhin die beitragsfreie Mitversicherung nichtberufstätiger Ehegatten und Kinder gibt, belohnt das bestehende Rentensystem geradezu Kinderlosigkeit: Wer – ob gewollt oder ungewollt – auf Kinder verzichtet und sein ganzes Leben lang berufstätig ist, kann im Alter mit einer ausreichend hohen Rente rechnen. Wer aber den Generationenvertrag nicht nur durch (zeitweise) Beitragszahlung, sondern auch durch Kindererziehung erfüllt, verzichtet zumeist auf einen erheblichen Teil des erzielbaren Einkommens, um dann im Alter mit einem Almosen abgespeist zu werden.

Noch reagieren SPD, Gewerkschaften und Rentenversicherungsträger nicht auf die Entscheidung aus Karlsruhe. Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl werden die dann Regierenden zu erklären haben, wie sie die Karlsruher Vorgaben umsetzen wollen. Mit niedrigeren Renten für Kinderlose ist es dabei nicht getan, denn diese könnten zu einer Negativrendite führen und damit die Eigentumsgarantie, die ebenfalls Verfassungsrang hat, verletzen. Es wird also einen grundsätzlicheren Umbau geben müssen: Arbeitnehmerbeiträge könnten nach Kinderzahl gestaffelt werden, womit aber die hälftige Finanzierung durch den Arbeitgeber gefährdet würde. Höhere Abgaben von Kinderlosen hingegen ließen sich ohne größere Proteste kaum auf Arbeiter und Angestellte beschränken, sondern müßten auch für Beamte, Selbständige und Freiberufler gelten. Es bleibt die Frage, wie eine konkrete und sofortige Entlastung von Eltern, wie sie Karlsruhe fordert, gestaltet werden kann.

Familienpolitik wird nach diesem Urteil zu einem der beherrschenden Themen im Bundestagswahlkampf 2002 werden. Schon jetzt erklärt die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, dieses Feld werde neben der Ökologie ein Schwerpunkt im Auftritt ihrer Partei sein.

Die Christdemokraten, als Opposition auch hier kaum profiliert, kokettieren bereits damit, die Rentenreform zu thematisieren, falls die Regierung ihren Entwurf ohne Berücksichtigung des Karlsruher Richterspruchs durch den Bundesrat bringen wolle. Es ist aber mehr als fragwürdig, ob diese Drohung überhaupt als solche wahrnehmbar ist. Zudem glänzte die Union in ihren Regierungsjahren nicht gerade durch innovative oder zukunftsweisende Familienpolitik, und es muß die Frage erlaubt sein, wie sie nun plötzlich in der Opposition sozialpolitische Kompetenz erworben haben soll. Arbeitsminister Riester sieht bislang jedenfalls keine Veranlassung, seine Pläne zu überarbeiten, seien doch die Kindererziehungszeiten im aktuellen Rentenreformentwurf erneut verbessert worden. Die Forderung nach einer konkreten Entlastung von Eltern griff er allerdings nicht auf.

Das schwierigste Unterfangen dürfte es im bevorstehenden Wahlkampf sein, den vielen Kinderlosen zu erklären, warum ausgerechnet sie, die sich schon jetzt als "Melkkuh der Nation" empfinden, erneut zur Kasse gebeten werden sollen, um einer Minderheit den persönlichen Lebenstraum von Kindern und Familie zu erfüllen. Ohne eine grundsätzlichere Debatte über den Generationenvertrag dürfte das kaum gelingen.


 
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