© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Der Finkelstein des Anstosses
Norman G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird
Axel Warachowski

In diesem Text steht der Begriff Massenvernichtung der Juden durch die Nazis für den eigentlich historischen Vorgang, der Holocaust dagegen für dessen von Ideologie geprägte Darstellung." Zweifellos hätte Finkelstein diesen Grund-Satz von Seite 185 an den Beginn seines Buches über die "Holocaust-Industrie" stellen sollen – denn sein Werk ist primär eine längst fällige Erinnerung an eine grundlegende Differenz: die zwischen Ware und Wahrheit. Als erster überhaupt untersucht Finkelstein den Holocaust als das, was er mittlerweile geworden ist: Ein gefährlich funktionalisierbares Massenprodukt der Kultur- bzw. Bewußtseins-Industrie.

In einem Essay zur "Bewußtseins-Industrie"(1962) untersucht Hans Magnus Enzensberger Ursachen und Folgen dieser "Schlüssel-Industrie" und sagt voraus, daß deren "volle Entfaltung noch bevorsteht". Denn seit den "alten Proklamationen" der die Neuzeit prägenden politischen Revolutionen ist "jede Herrschaft prinzipiell ungesichert": "Materielle Ausbeutung muß hinter der immateriellen Deckung suchen und die Zustimmung der Beherrschten mit immer neuen Mitteln erwirken." Nicht die "Ausbeutung" abzuschaffen, wohl aber das Bewußtsein davon, ist Aufgabe der "Bewußtseins-Industrie". Ihre wichtigsten "Komplizen" hierbei sind die Intellektuellen, ihre Instrumente die Massenmedien, und das wichtigste zu besetzende Terrain das der Erinnerungen. Wirken "Manipulation" und "falscher Schein", greifen "soziale Ablenkung" und "Repression", so bleibt übrig, was Herbert Marcuse als "eindimensionalen Menschen" beschrieb: ent-eignet im Wortsinne – im Inneren tot, im Äusseren je nach Mode poliert wie eine Ware. Das (Re-)Produzierte und Konsumierte wird zum toten-abtötenden Ding: das Wort zum Klischée, der heilige Hain zum Holz und – die Massentötung der Juden zur "Seifenoper". Am Tag nach der Erstsendung der US-Serie "Holocaust" (1978) schrieb Eli Wiesel in der New York Times: "Dieser Film verwandelt ein ontologisches Ereignis in eine Seifenoper".

"Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht": Wo sie Fortschritt verspricht, meint sie Verdummung; wo sie Freiheit verspricht, meint sie Unterdrückung; wo sie Wahrheit verspricht, meint sie Ware – solche "Entlarvungen" finden sich im Kapitel "Kulturindustrie" in Horkheimer/Adornos "Dialektik der Aufklärung", gipfelnd in dem Satz: Wo sie Aufklärung verspricht, meint sie Betrug. Bekämpft wird der Feind, der längst geschlagen ist: das selbständig denkende Subjekt. Ausgerechnet dieser Industrie und ihren massenhaft zur Repression produzierten Waren die "Erziehung nach Auschwitz" zu überlassen, hätten Horkheimer/Adorno als Zeichen von Besinnungslosigkeit angesehen. 1966 schrieb Adorno: "Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nichtmitmachen."

Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte der Erinnerung zeigt, wie die Bewußtseins-Industrie mehr und mehr in das Gebiet dieser Erinnerungen eindringt und es besetzt. Raul Hilberg hat 1988 die ersten Erinnerungsformen der Massenvernichtung nachgezeichnet: Wie Überlebende ihre Erinnerungen verstört im innersten persönlichen Bereich verbargen; wie die wenigen, unter Schmerzen niedergeschriebenen Versuche eigenständiger literarischer Bewältigung beschwiegen wurden; wie noch während des Eichmann-Prozesses 1961 nicht nur Bürger Israels oder der USA äußerst zögerlich reagierten; wie Hannah Arendt für ihr Buch "Eichmann in Jerusalem" gerade zwei englischsprachige Untersuchungen zum Thema vorfand; wie sich in den USA noch in der sechziger Jahren kaum ein Verlag für Hilbergs Buch über die "Destruction of the European Jews" finden ließ; und wie sicher Hilberg sich Anfang der siebziger Jahre war, daß mit seiner grundlegenden wissenschaftlichen Erfassung das Thema abgeschlossen sei: "I thought the topic would die (now)".

Was dann zunächst innerhalb der US-Gesellschaft vor allem mit dem Yom Kippur-Krieg von 1973 und mehr noch mit der "Holocaust"-Serie "zurückkam", war in der Tat etwas anderes: Neben und über die auf den persönlichen oder wissenschaftlichen Bereich beschränkten, eher unverkäuflichen Formen der Erinnerung begann sich zu schieben, was Peter Novick im Anschluß an Maurice Halbwachs "collective memory" nennt. In "Nach dem Holocaust" gibt Novick eine Sozialgeschichte dieser kollektiven Erinnerung. Wie schon der Begriff des Kollektivs zeigt, ist diese Geschichte vor allem die einer zunehmenden, doppelten Enteignung: der Enteignung sowohl persönlicher wie auch wissenschaftlicher Erinnerungsformen und Inhalte.

Erst um 1980 waren die Reihen der Überlebenden so dünn, daß deren nun größtenteils herrenlose Erinnerungsgüter ohne größere Probleme besetzt und fremdbestimmt werden konnten. Deutlich zeigt die 1978 erfolgte sprachliche Um-Etikettierung den Zeitpunkt des "Besitzerwechsels" an. Seither heißt die Massenvernichtung "Holocaust"– und trägt damit die Bezeichnung eines "Massen-Produktes der kapitalistischen Kultur-Industrie" auf der Stirn: Einer Industrie, die sehr genau rechnet, welchen Wert jene enteigneten Erinnerungsgüter als Rohstoff für ihre Unterhaltungs-Produkte und die damit möglichen Manipulationen haben; einer Industrie zudem, zu der eine der Wahrheit verpflichtete Geschichtswissenschaft gehört wie der Hofnarr zum König.

Daß die Bezeichnung "Holocaust" so verbreitet wurde, wie die weltweit unter diesem "Label" verkauften Waren und Dienstleistungen, zeigt deutlich, wer heute im Haus der Erinnerungen das Sagen hat: Nicht die wenigen Überlebenden und schon gar nicht die Historiker, sondern ein "Kollektiv", dessen Verflechtungen mit der Bewußtseinsindustrie so offensichtlich wie bislang unaufgeklärt sind. In Novicks wichtiger Untersuchung findet sich indes keine kritische Analyse des "Kollektivs" oder der "Kollektivierung", die die dahinter verborgenen Ideologien, Mächte oder wirtschaftlichen Interessen "systemkritisch" aufdecken würde. Blind für diese zweite Dimension zu sein, ist einer der Haupteinwände, den Finkelstein gegen Novick anführt: "Die von Novick vorgebrachten Belege zeigen, wie sehr die Erinnerung an den Holocaust ein ideologisches Produkt verhüllter Interessen ist."

Hier genau beginnt Finkelsteins doppelte Kritik: Zunächst die an Novick, vor allem aber die an der "Holocaust-Industrie". In einem Interview im Tagesspiegel (Ausgabe vom 5. Februar) erklärt Finkelstein nüchtern: "Die Holocaust-Industrie besteht aus all denjenigen Personen, Organisationen und Institutionen, die heute politisch oder finanziell von den Leiden des jüdischen Volkes profitieren oder dieses ausbeuten, um ihre Ziele leichter zu erreichen".

Finkelsteins Zweifel gegenüber den Produkten dieser Industrie; seine Skepsis gegenüber den "Konsumenten"; sein tiefes Mißtrauen ihr gegenüber, sobald sie von "dollars" und "needy victims" spricht – all dies schulte sich zuerst an sehr persönlichen Erfahrungen: Während etwa literarische Hochstapler wie Kosinski oder Wilkomirski bis zur Aufdeckung ihrer Fälschungen von den Geschäftsführern der "Industrie" auf "Welttournee" geschickt wurden und erschwindelte Holocaust-Stories feilboten, erlebte Finkelstein, wie seine Eltern als wirkliche Überlebende der Ghettos und Lager zu Hause und völlig "allein für sich über ihr Leid nachgrübelten". Wer so nah eine lebenslange Traumatisierung miterfahren hat, wird skeptisch bleiben, wenn Besucher etwa von "Schindlers Liste" – Popcorn konsumierend – das Leid gleich von Millionen Opfern angeblich "voll empfinden". Daß seine Mutter beschämend geringe 3.500 Dollar Entschädigung erhielt – während "Holocaust-Industrielle" Millionen verdienen –, hat bei Finkelstein die Frage an die "Holocaust-Industrie" geweckt: Wer profitiert? "Was meine Mutter für sechs Jahre Leiden unter der Nazi-Verfolgung erhielt, kassiert (der NewYorker Holocaust-Anwalt) D’Amato in 10 Stunden."

Merkwürdig nur, daß über diese Frage heute weder offen noch kritisch gesprochen wird – schon gar nicht von jenen, die das doch sonst so gerne taten: Es gab einmal eine Zeit, da verwendeten Intellektuelle mit abweichender Meinung einerseits aussagekräftige politische Kategorien wie "Macht" und "Interessen", andererseits den Begriff "Ideologie". Heute ist davon nichts geblieben als die konziliante, entpolitisierte Sprache der "Anliegen" und der "Erinnerung". Herbert Marcuse hätte die hier von Finkelstein an der Sprache "entlarvte" "positivistische Säuberung des Geistes" als Zeichen "verstümmelten Bewußtseins", als Beweis der "Ausbreitung einer neuen Ideologie" genommen. Daß gegen solch "örtliche Betäubungen" nichts hilft als schonungslos kritische Offenlegung der Widersprüche zwischen Ideologie und Wirklichkeit – genau das gehörte einst zu den Grundinstrumenten im Werkzeugschrank linker Gesellschaftskritik: Hiermit setzt Finkelstein an. Sein Buch ist das eines souveränen Denkblockade-Brechers, dessen irritierende Kritik immer auch auf jene zielt, die darauf hereingefallen sind: "Angesichts des Unsinns, den die Holocaust-Industrie täglich auf den Markt wirft, wundert man sich sehr, warum es so wenige Skeptiker gibt". Völlig frei spielt Finkelstein um die sonst verdeckte feine Linie der Differenz herum: Hier die vorgehängten Reklame-Lappen des "falschen Scheins" zeigend, dort die harten politischen und wirtschaftlichen Interessen aufdeckend.

Ein Beispiel hierfür ist seine ernüchternde Analyse des Streits um "nachrichtenlose Konten mutmaßlicher jüdischer Inhaber aus der Zeit des Nationalsozialismus". Wer das gelesen hat, wird zukünftig so skeptisch reagieren wie der Autor, wenn US-jüdische Organisationen im Namen von Opfern harte Dollar fordern. Daß sich stets dann erschütternde TV-Bilder aus den Studios der "Industrie" und Warnungen vor "neuem Antisemitismus" in den Medien häufen, wenn solchen Forderungen Nachdruck verliehen werden soll, wird das geweckte Mißtrauen nicht beruhigen. Wer zudem erfährt, daß Überlebende selten erhielten, was doch in ihrem Namen verlangt wurde, wird das Ausmaß der Tragödie zu ahnen beginnen.

Was Finkelstein bietet, ist ein Lehrstück aufklärender Gesellschaftskritik. Es ist freilich auch eine Intellektuellen-Schelte. Denn das Problem liegt nicht nur bei der "Industrie", sondern auch bei jenen, die ihr selbst als Wissenschaftler wie blind begegnet sind. Eine eigene Studie wäre wert, warum die kritische Kraft zumal der Linken gegenüber der "Holocaust-Industrie" – die nur die Speerspitze der Bewußtseins-Industrie ist – bisher so völlig versagt hat. Gerade die deutsche Linke hat sich bis über beide Ohren mit den Produkten der "Industrie" behängt, um so den Verlust ihrer Utopien zu bemänteln: Sie hat sozusagen einen Mantel-Vertrag mit der "Holocaust-Industrie" geschlossen und muß diese seither um ihrer selbst willen verteidigen. Das erklärt, warum die deutsche Linke längst als "Komplize" ihres einst so scharf kritisierten Gegners auftritt und für die Kultur- bzw. Bewußtseins-Industrie heute jene Kritik wegräumen muß, die gestern noch die ihre war. Daher wurde Finkelsteins dezidiert linkes Buch gerade von der linken Presse als besonders gefährlich behandelt und als angeblich den "Rechten" nutzend verworfen. Da half auch nicht, was Enzensberger an solchen Versuchen, sich gegen Kritik zu immunisieren, schon 1962 bemerkt hatte: "Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite ist nicht nur überflüssig. Sie ist ein Charakteristikum totalitären Denkens."

Bereits lange vor dem Druck wurde mit dem "Beifall-von-Rechts"-Argument die Veröffentlichung behindert; als Finkelsteins Buch dennoch erschien, reagierte die deutsche Kultur-Industrie wie gleichgeschaltet: Auf 13 Rezensionen kamen 12 Verrisse – Dutzend-Ware, die nervös dem Buch auswich, aber die Person des Autors nach immer dem gleichen Muster zu stigmatisieren suchte.

Mag sein, daß das alte, "selbständig denkende und fühlende und handelnde Subjekt" – ja: auch das "leidende" – etwas angegraut ist und neben all den neuen glänzenden Waren wie aus der Mode gekommen scheint. Wer es dennoch in sich entdeckt, der wird auch seine Unfähigkeit entdecken, nach den Produkt-Vorgaben der "Holocaust-Industrie" zu trauern "wie ein Mensch". Am Schluß seines Buches schreibt Finkelstein: "Es bleibt nur noch, das offen auszusprechen. Die edelste Geste gegenüber jenen, die umgekommen sind, besteht darin, ihr Andenken zu bewahren, aus ihrem Leiden zu lernen und sie endlich in Frieden ruhen zu lassen." "Das offen auszusprechen" – das ist schon fast der größte anzunehmende Unfall der "Holocaust-Industrie" und ihrer "Komplizen": Entsprechend fallen die Reaktionen aus, wie man sehen kann. Einzig "dem Vorteil meiner jüdischen Familiengeschichte" hat Finkelstein nach seinem eigenen Zeugnis zu verdanken, bislang nicht "völlig zerstört" worden zu sein. Wie ein befreundeter jüdischer Historiker erklärte, ist das Problem nicht, daß Finkelstein auf die Wahrheit zeigt – sondern daß andere einen Berg von Unwahrheiten vorziehen.

 

Norman G. Finkelstein: Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, Piper Verlag, München 2001, 234 S., 38 Mark


 
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