© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Vorwärts zu neuen Höhenflügen
Sozialpolitik: In der neuen Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di sind geschwächte Verbände vereint
Klaus Gröbig

Am vergangenen Wochenende lösten sich in Berlin die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV, mit 1,5 Millionen Mitgliedern), die Gewerkschaft für Telekommunikation, Postdienste und Postbank (DPG, 455.000 Mitglieder), die Industriegewerkschaft Medien – Druck und Papier, Publizistik und Kunst (IG Medien, 170.000 Mitglieder) und die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV, 455.000 Mitglieder) vom DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) sowie die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG, 400.000 Mitglieder) auf. Anschließend fand auf einem dreitägigen Kongreß die Gründung einer Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di statt.

Die noch amtierenden Funktionäre der nun aufgelösten Gewerkschaften verweisen beharrlich auf die historische Dimension dieses Zusammenschlusses, denn mit Ver.di entstehe die weltgrößte Gewerkschaft – China zählt offensichtlich nicht zur "Gewerkschaftswelt". Soll man dies für bare Münze nehmen, ist bei so viel Vereinigungspathos als historisch angemessener Vergleich nur noch der "Zusammenschluß" von SPD und KPD zur SED im Jahre 1946 angemessen. In diesem Sinne haben die Protagonisten des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses das sicherlich nicht gemeint; und tatsächlich: das wirkliche Motiv des Zusammenschlusses dürfte darin zu suchen sein, daß alle Fusionisten eines gemeinsam haben: Mitgliederschwund. So verlor allein die ÖTV in den letzten zehn Jahren 600.000 Mitglieder – immerhin ein Viertel des Bestandes. Die anderen fusionierenden DGB-Gewerkschaften sind, was die Mitgliederentwicklung angeht, auch nicht viel besser dran.

Für den DGB bedeutet der Quasi-Beitritt der 1949 gegründeten DAG nicht nur zusätzliche Mitglieder, sondern auch die Beseitigung einer mitunter sehr lästigen Konkurrenz. Zudem verfügt die DAG über eine prall gefüllte Kasse. Deren Mitglieder – einstmals mit Bedacht einer nicht-sozialistisch ausgerichteten Gewerkschaft beigetreten – haben sich sicherlich gefreut, als ÖTV-Chef Frank Bsirske ihnen erst- mal zeigte, wo Bartel den Most holt. Er habe – etwa in der Diskussion über die Geschäftsverteilung im Bundesvorstand – den anderen vier Gewerkschaften "klargemacht, wo Schicht ist". Keine Frage: die ÖTV mit ihren 1,5 Millionen Mitgliedern stellt knapp die Hälfte der Ver.di-Mitglieder, ist im Vorstand entsprechend vertreten, und ÖTV-Chef Bsirske amtiert nahtlos als Ver.di-Chef weiter. Dennoch tat sich gerade die ÖTV als der Hauptnutznießer beim Zusammenschluß besonders schwer. Erst nach dem Abstimmungsfiasko beim Gewerkschaftstag der ÖTV im November 2000 – mit dem anschließenden Rücktritt des damaligen Vorsitzenden Herbert Mai – und entsprechender "Überzeugungsarbeit" konnten sich die Delegierten der ÖTV entschließen, am 16. März 2001 mit einer Mehrheit von 87,1 Prozent die Auflösung herbeizuführen und den Weg für Ver.di frei zu machen. Zwar war auch die Zustimmung der HBV-Delegierten im Vorfeld fraglich, aber das Fernbleiben der 440.000 Mitglieder zählenden Gewerkschaft wäre für die Mitgliedersubstanz nicht entscheidend gewesen. Bsirske, mit dem Parteibuch der Grünen – einer eigentlich eher gewerkschaftsfeindlichen Partei – ausgestattet, war bis Oktober als Personalchef der Stadt Hannover noch auf der Arbeitgeberseite zu finden. Wohl um das vergessen zu machen, hatte er auf dem Leipziger ÖTV-Kongreß damit kokettiert, er stamme aus einer Helmstedter Familie "klassenbewußter Arbeiter": Seine Mutter war Krankenschwester, sein Vater Arbeiter im Volkswagenwerk. Immerhin hatte Bsirske in jungen Jahren auch für kurze Zeit der "Arbeiterpartei" SPD angehört. Nach seinem Abitur erhielt er – ohne "Bewährung als Arbeiter" – ein Stipendium der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. 1978 – er hatte gerade sein Diplom als Politologe erworben – nahm er für knapp ein Jahrzehnt die Arbeit als Bildungssekretär bei der Jugendorganisation "Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken" auf. 1987 trat Bsirske den Grünen bei, für die er zunächst als Fraktionsmitarbeiter tätig war. 1989 wechselte Bsirske als Hauptamtlicher zur ÖTV.

Der 49jährige soll nun also die Erwartungen der Mitglieder aus der eher klassenkämpferischen HBV, der modernistisch angehauchten DAG und der bodenständischen Postgewerkschaft erfüllen, gleichzeitig den rapiden Mitgliederschwund des DGB stoppen und schließlich den Arbeitgebern "Angst" einjagen. Wehe aber, Ver.di entwickelt sich in Richtung des neuen DGB: Eingeladen vom Bundespräsidenten zu Gedenktagen, vom Kanzler zum Bündnis für Arbeit, zum Fototermin mit dem Arbeitgeber-Präsidenten und immer artig und politisch korrekt – ja, wehe.

Ursprünglich sollten auch die linksradikal dominierte Lehrergewerkschaft GEW, die Gewerkschaft der Eisenbahner (GdED) und die Gewerkschaft Nahrung Genußmittel, Gaststätten (NGG) am Ver.di-Zusammenschluß teilnehmen. Die Zukunft wird zeigen, ob die Schaffung einer Fusionsgewerkschaft, die über 3.000 Berufe vertreten muß, der richtige Weg gewesen ist. Am Ende könnten GEW, GdED und NGG mit dem Fernbleiben an der Fusion die richtige Entscheidung getroffen haben.

 

Klaus Gröbig ist Gewerkschafter und Personalrat. Er kandidierte bei der Abgeordnetenhauswahl 1999 in Berlin als Spitzenkandidat der FDP in Berlin-Tempelhof.


 
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