© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Soldaten vom Gelände verschluckt
Mazedonien: "Transnationale Integration" erfolglos / Jeder dritte "Mazedonier" ist Albaner / "Unantastbarkeit" von Grenzen die Ursache des Konflikts
Carl Gustaf Ströhm

Zur Lage in Mazedonien erhielt der deutsche Fernseh-Konsument seltsame Bilder frei Haus geliefert: Da sah man martialisches und supermodernes deutsches Bundeswehr-Kriegsgerät in der Kaserne von Tetovo. Ein "Leopard" – angeblich der modernste und beste Panzer der Welt – schwenkte drohend den Geschützturm. Aber dann folgte die kleinlaute Mitteilung, ein Teil des deutschen Tetovo-Kontingents sei nach rückwärts, Richtung Süden, verlegt worden, weil in Tetovo die Albaner von den Bergen herunter schießen. Wieder einmal fiel einem der brave Soldat Schweijk ein, der beim ersten Feuergefecht mit dem Feind im Ersten Weltkrieg quer über das Getreidefeld den Feinden zugerufen hatte: "Nicht schießen, hier sind Menschen!"

In Mazedonien droht der Westen in eine dreifache Zwickmühle zu geraten. Erstens verhalten sich die Nato-Kontingente so, als wollten sie weiland den chinesischen Genossen Mao Tse-Tung bestätigen, der den "westlichen Imperialismus" als "Papiertiger" bezeichnet hatte. Anstatt entschlossen zwischen die Konfliktparteien zu treten, ergreift das westliche Bündnis das Hasenpanier und steckt den Kopf in den Sand.

Enttäuscht sind in erster Linie die (slawischen) Mazedonier. Sie hatten geglaubt, daß die US-Soldaten und Militärberater sowie das Bundeswehr-Kontingent sie im Ernstfall schützen würde. Amerika und Deutschland galten bisher im Südosten als die beiden stärksten Mächte. Jetzt stehen beide vor den Mazedoniern in Unterhosen da: Mit all ihren modernsten Waffen und toll ausgerüsteten Soldaten können sie den (slawischen) Mazedoniern keinen Schutz gewähren.

Droben, in den Bergen der "Schar-planina" nördlich der mehrheitlich albanisch bewohnten mazedonischen Stadt Tetovo sind möglicherweise einige hundert, vielleicht aber auch nur einige Dutzend junge Albaner, die man ihrem Alter nach, wenn die Lage nicht so ernst wäre, als "Lausejungs" bezeichnen könnte, drauf und dran, das gesamte westliche Bündnis "auszuhebeln". In diesen Balkanbergen werden, wie ein Kenner des Partisanenkrieges 1941 bis 1945 sagte, Soldaten oder Freischärler "vom Gelände verschluckt". Nur ein entschlossenes Durchkämmen des Geländes könnte einen Erfolg bringen – aber dazu fehlt dem Bündnis der Wille, denn jetzt könnte es ja ernst werden! Der erste tote deutsche oder amerikanische Soldat könnte innenpolitisch zu Hause unvorhersehbare Folgen haben. Da erscheint dann "Joschka" Fischer martialisch mit Panzerweste (diesmal ohne den Schutzhelm, den er bei der Niederknüppelung des am Boden liegenden Polizisten trug) – aber bis auf Sprechblasen und selbstquälerisch formulierte Nichtigkeiten konnte er seinen mazedonischen Gastgebern auch nichts sagen.

Aber auch die Albaner sind enttäuscht – und der Gewaltausbruch ist Ausdruck dieser albanischen Frustration. So wie der Westen gegenüber den Mazedoniern das Versprechen auf Schutz und Sicherheit nicht halten konnte, hat er auch gegenüber den Kosovo-Albanern und der albanischen Nationalität in Mazedonien nichts von dem einhalten können, was diese Albaner seinerzeit erwartet hatten: Nämlich die freie Selbstbestimmung und die albanische "Republik Kosovo" als unabhängigen Staat. Hätte der Westen den Mut zu diesem Schritt gehabt – wahrscheinlich hätten die Albaner ihre Energien nach innen, für den Staatsaufbau verwendet.

Erst vor wenigen Tagen hat der Westen auf dem Balkan eine weitere Kurzsichtigkeit begangen. Als die Zusammenstöße zwischen Albanern und Serben in der "Sicherheits- oder Pufferzone" zwischen Kosovo und Altserbien zunahmen, trat nicht etwa die KFOR dazwischen – sondern der Westen hob für die Serben die Sicherheitszone auf und holte die serbische Armee ins Land. Diese erhielt jetzt mehr oder weniger freie Hand, gegen die rebellischen Albaner vorzugehen.

Man braucht kein Balkan-Experte und kein großer Stratege zu sein, um zu wissen: In kritischen Situationen muß man Streithähne auseinanderhalten. Die serbische Armee aber dazu anzustiften, gegen die Albaner gewissermaßen die Kastanien im Auftrag der Nato aus dem Feuer zu holen, ist so, als wolle man einen Kanister Benzin zum Löschen eines Feuers verwenden. Zwischen dem Vorgehen der Serben im Presevo-Gebiet und dem Vorgehen der Albaner gegen Tetovo besteht ein offensichtlicher Zusammenhang. Dem westlichen Bündnis sind damit die Initiative und die Kontrolle über die Situation aus den Händen geglitten. Schon hat sich der russische Außenminister Iwanow auf den Weg gemacht, um den vom Westen enttäuschten mazedonisch-slawischen Brüdern den Rücken zu stärken. Die Griechen, die ohnedies kein slawisches Mazedonien wollen, haben ihre Hilfsbereitschaft bekundet – ebenso wie die Bulgaren, für welche die Mazedonier nichts anderes als Bulgaren sind. Und die Serben – ob nun demokratisch oder nicht – warten nur darauf, im Kosovo auf ihre Weise "Ordnung" zu schaffen.

Alles das deutet auf eine explosive Zukunft, auf die der Westen mit seinen angeblich so sicheren Patentrezepten nicht vorbereitet ist. Ob die Republik Mazedonien die albanischen Angriffe unbeschadet überlebt, ist mehr als zweifelhaft: Jeder dritte Mazedonier ist der Nationalität nach Albaner. Zwar hat der schwedische Balkan-Amateur Carl Bildt dieser Tage beschwichtigt, indem er behauptete, jetzt seien die albanischen Extremisten gegen die albanischen Demokraten aufgestanden – aber solche und andere Äußerungen zeugen nur von Unwissenheit. Im Rheinischen Merkur (5/01) schrieb der Schwede Anfang Februar völlig ahnungslos: "Es gibt nur einen Weg zu einer inneren Stabilität auf dem Balkan, der für alle politischen Führer der Region gangbar ist: Sie müssen ihre Fixierung auf die Konzepte des 19. Jahrhunderts aufgeben und sich von ihrem Nationalstaatsdenken lösen. Sie müssen einsehen, daß im Europa des 21. Jahrhunderts nicht Grenzen wichtig sind, sondern nur das Konzept der transnationalen Integration Erfolg verheißt. Der Balkan steht vor der großen Entscheidung: Integration oder Desintegration. Dies ist möglicherweise eine Wahl – das wird die Zukunft entscheiden – zwischen Krieg und Frieden." Carl Bildt, der frühere Ministerpräsident von Schweden, ist seit Mai 1999 von der Uno als Vertreter des Generalsekretärs auf den Balkan entsandt worden – welche Qualifikation der 1994 abgewählte Zentrums-Politiker aus Skandinavien für Südosteuropa hat, erschließt sich vermutlich nur der UN-Bürokratie in New York.

Die Albaner, von denen es bereits vor hundert Jahren hieß, das Gewehr sei für sie ein Körperteil, halten zusammen. Kein albanischer Mazedonier wird auf seine Landsleute und Blutsbrüder einen Schuß abfeuern – da aber von den 10.000 Mann der mazedonischen Armee 40 Prozent Albaner sein sollen, heißt das: Die Republik von Skopje ist in Gefahr, über den Köpfen ihrer Bürger zusammenzustürzen.

Das aber heißt: Die Fixierung der westlichen Politik auf die "Unantastbarkeit" und "Unveränderbarkeit" von Grenzen – auf dem Balkan, aber auch anderswo – verliert ihre Glaubwürdigkeit. Selbst wenn es, wofür es einstweilen keinerlei Anzeichen gibt, gelingen sollte, der albanischen Guerilla oberhalb von Tetovo Herr zu werden – die "mazedonischen" Albaner werden den mazedonischen Staat von jetzt an mit anderen Augen betrachten. Für den Westen gilt: Es gibt verpaßte Gelegenheiten, die sich nicht so leicht rückgängig machen lassen. Schon hat der mazedonische Ministerpräsident Ljupco Georgijevski seiner tiefen Enttäuschung über Amerika und Deutschland Luft gemacht, von denen er behauptet, beide hätten Mazedonien im Stich gelassen. So seltsam es erscheint: Die Albaner sind, auf sich bezogen, der gleichen Meinung. So ist die Nato, die um jeden Preis jedes Risiko vermeiden wollte, ungewollt zwischen die Mühlensteine geraten. Das aber ist der ungünstigste Platz, der sich denken läßt.

Mazedonien – ein Land im Herzen des Balkans

Der seit September 1991 unabhängige Staat Mazedonien liegt im Herzen des Balkans. Die jugoslawische Armee zog Anfang 1992 ohne Zwischenfälle aus der ehemaligen Teilrepublik des auseinandergebrochenen Vielvölkerstaats ab. Die Nachbarschaft zu der heutigen Bundesrepublik Jugoslawien mit der Krisenregion Kosovo sowie zu Albanien bereitet dem Land jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Die Hauptstadt Skopje ist mit etwa einer halben Million Einwohnern auch die größte Stadt des Landes, das rund zwei Millionen Einwohner zählt. Den größten Bevölkerungsanteil stellen mit rund zwei Dritteln die bulgarisch-slawischen Mazedonier, gefolgt von Albanern mit offiziell etwa 23 Prozent. Die Albaner setzen ihren Bevölkerungsanteil jedoch weitaus höher an. Zu den Minderheiten zählen vor allem Türken, Zigeuner und Serben. Zwei Drittel der Bevölkerung sind orthodoxe Christen, knapp ein Drittel Moslems. Mazedonien hat seit 1991 eine parlamentarische Demokratie. Staatsoberhaupt ist seit 1999 Boris Trajkovski, Ministerpräsident Ljupco Georgijevski. Im Sobranie (Parlament) errang Ende 1998 eine zuvor oppositionelle Mitte-Rechts-Koalition die Mehrheit. Mazedonien exportiert überwiegend landwirtschaftliche Produkte – Baumwolle, Tabak, Wein, Obst. Auch die Bekleidungsindustrie sowie der Bergbau tragen zum Export bei.


 
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