© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/01 23. März 2001

 
Die totale Überwachung
Wachsende Kriminalität und die Bedrohung der Freiheit
Alain de Benoist

Wie überall auf der Welt nimmt auch in Frankreich die Kriminalität stetig zu. Allein im Jahr 2000 wurden 3.770.000 Verbrechen und Delikte zur Anzeige gebracht – noch 1950 waren es nur 574.000. Mit anderen Worten, innerhalb eines halben Jahrhunderts hat sich die Zahl versiebenfacht; auf 1.000 Einwohner kommen 60 Verbrechen, während es vor fünfzig Jahren 13,7 waren. Unberücksichtigt bleiben in dieser Rechnung alle Übergriffe ohne Opfer sowie jene, deren Opfer sich keine Illusionen über ihre Aufklärung machten und sie deshalb gar nicht erst der Polizei meldeten. Angesichts dieser Gewaltschwemme, die inzwischen sowohl Linke als auch Rechte eingestehen, diskutieren Politiker und Soziologen endlos weiter, anscheinend ohne brauchbare Lösungenzu finden.

Die heutige Kriminalität weist einige neuartige Merkmale auf. Immer mehr Verbrechen werden von Minderjährigen begangen. Ihr Alter nimmt ab, ihre Gewaltbereitschaft zu. Gewalt in den Schulen gehört mittlerweile ebenso zur alltäglichen Normalität wie die bewaffneten Banden in den Vorstadtsiedlungen. Massenvergewaltigungen, Folter und andere Akte der Barbarei häufen sich. Aber vor allem anderen ist es die Gewalt auf den Straßen – Raubüberfälle, Angriffe in den öffentlichen Verkehrsmitteln, angezündete Autos –, die in der Bevölkerung ein Gefühl der Bedrohung verursacht. Sämtliche Umfrageergebnisse belegen es: Sicherheit ist das wichtigste Anliegen der Menschen. Sie haben die täglichen Übergriffe satt und weigern sich entschieden, die Ohnmacht des Staates und die Nachsicht, ja Selbstgefälligkeit der Gerichte länger mitanzusehen.

Viele Beobachter sehen einen direkten Zusammenhang zwischen Kriminalität und Einwanderung. Das will selbstverständlich nicht heißen, daß alle Einwanderer Verbrecher sind. Dennoch ist der Anteil an Tätern unter ihnen eindeutig höher als ihr Bevölkerungsanteil. Offiziellen Angaben zufolge sind derzeit 22,4 Prozent aller Insassen französischer Gefängnisse Ausländer. In Marseille beträgt dieser Anteil sogar 25,6 Prozent, in Paris 36,2. Die polizeilich gemeldeten Ausländer machten dagegen 1999 nur 7,4 Prozent der auf französischem Territorium lebenden Bevölkerung aus. Kürzlich eingebürgerte Personen, die in Frankreich geboren wurden oder Doppelpässe besitzen, gelten nicht als Ausländer – rechnet man also zu den amtlichen Statistiken die Zahl der Franzosen ausländischer Abstammung hinzu, so sind über 50 Prozent aller Gefängnisinsassen durch Einwanderung nach Frankreich gekommen.

Diese Betrachtung reicht allerdings nicht aus, um das Problem zu lösen. Die steigende Kriminalitätsrate ist nicht allein der Einwanderung anzulasten. Sie geht auch auf den zunehmenden Individualismus und die Anonymität der Großstädte zurück, in denen sich gesellschaftliche Bindungen und organisch gewachsene Strukturen auflösen. Das verhindert, daß Gemeinschaften sich noch für sich selbst verantwortlich fühlen. "Je individualistischer eine Gesellschaft ist ..., desto stärkerer Druck muß ausgeübt werden, um einem Verlust der bürgerlichen Umgangsformen wie der staatsbürgerlichen Gesinnung entgegenzuwirken." (Le Nouvel Observateur, 1. Februar 2001) Die Unsicherheit zu beheben erfordert demnach eine "Resozialisierung des Sozialen", eine "Wiedervergesellschaftlichung der Gesellschaft", die dem Gemeinwesen neues Leben einhaucht.

Eine konkrete Folge der Notwendigkeit, das Problem in den Griff zu bekommen, ist die "Privatisierung der Inneren Sicherheit". Wie der Soziologe Paul Virilio nachgewiesen hat, ist die Sicherheit unser höchstes Luxusgut geworden. Daraus hat sich ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt. Millionen US-Bürger wohnen mittlerweile in "Privatstädten", in sogenannten gated communities: "bewachten Gemeinschaften", in denen private Sicherheitsdienste mit ihren eigenen Waffen für Ordnung sorgen. Auch in Frankreich entstehen inzwischen "Luxusghettos", die von Privatpolizeien bewacht werden. "Die wahre Gefahr", so Virilio, "besteht darin, daß die Metaphern des Lagers und der Burg die geographische Struktur der Stadt von morgen bestimmen werden. Anders gesagt, daß die wachsende Verunsicherung uns dazu bringt, die Stadt zu privatisieren."

Die zweite Überlegung, der man sich stellen muß, ist die Frage, inwieweit die Sorge um die Sicherheit andererseits den totalen Überwachungsstaat ankündigt. Zum einen läßt sich eine fragmentierte Gesellschaft leichter kontrollieren. Zum anderen verdirbt das Bedürfnis nach Sicherheit uns mehr und mehr den Appetit auf die Freiheit. Dieselbe Gesellschaft, die sich Verbrechern gegenüber so oft nachsichtig zeigt, verfügt über Mittel der Kontrolle und Überwachung, von denen die totalitären Regime des letzten Jahrhunderts nur träumen konnten. Die wachsende Verunsicherung könnte die Entwicklung beschleunigen, indem sie einen Vorwand liefert, Überwachungsmaßnahmen auszubauen.

In einer Gesellschaft, in der man ständig der Gefahr eines Überfalls ausgesetzt ist, lebt es sich nicht angenehm. Eine Gesellschaft, in der man die Sicherheit zum Preis der totalen Überwachung erkauft hat, ist überhaupt nicht mehr lebensfähig.

 

Alain Benoist ist Chefredakteur der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift "Nouvelle Ecole".


 
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