© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
Im Sog übermächtiger Kräfte
Berndt von Staden: Ende und Anfang. Erinnerungen 1939 bis 1963
Doris Neujahr

Berndt von Staden war über drei Jahrzehnte im diplomatischen Dienst – unter anderem als Botschafter in Washington – und als Staatssekretär im Auswärtigen Amt tätig. Er wurde 1919 in Estland als Sproß der baltendeutschen Oberschicht geboren. Diese Schicht erlebte ab 1917 durch die Revolution und die Enteignungen, die die jungen baltischen Nationalstaaten anordneten, ihren ökonomischen Ruin. Im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts wurde ihre Aussiedlung vereinbart. Stadens erster Memoiren-Band "Erinnerungen aus der Vorzeit. Eine Jugend im Baltikum" (1999), endete am 2. November 1939 mit der Abreise aus Reval (Tallin) auf dem KDF-Schiff "Deutschland". Der jetzt vorliegende zweite Band beginnt mit der Ankunft des Schiffes in Gotenhafen (Gdingen).

Die Ankömmlinge wurden in Westpreußen und Posen geleitet, preußische Provinzen, die man 1919 in Versailles Polen zugeschlagen hatten und nunmehr dem Sieg über Polen den "Warthegau" bildeten. Die baltischen Umsiedler hofften, nach den Wirren der letzten Jahre endlich zur Ruhe zu kommen und an ihre frühere Lebensform anknüpfen zu können. Für die NS-Führung stellten sie vor allem eine Manövriermasse für ihre Germanisierungspolitik dar. Sie bekamen polnische Landgüter zugewiesen, deren Besitzer ins Generalgouvernement deportiert wurden. Obwohl die Baltendeutschen, jedenfalls soweit sie aus Estland kamen, mehrheitlich nicht nationalsozialistisch, sondern nationalkonservativ gesinnt waren, regte sich unter ihnen kaum Widerspruch dagegen. Staden beschönigt nichts, aber es gelingt ihm, dieses Verhalten aus der damaligen Grenzsituation heraus plausibel zu machen. "Der Hauptgrund für die relative Gefühllosigkeit war (...) eine Art von Schock, den das schwer nachvollziehbare Doppelerlebnis von Krieg und Heimatverlust ausgelöst hatte. Das Ergebnis war ein Gefühl, (…) übermächtigen Kräften ohne Alternative ausgeliefert zu sein." Ein ehemaliger Angehöriger des Stahlhelm, der seit der "Gleichschaltung" 1933 einen SA-Rang bekleidet, riet ihm, sich umgehend beim Heer zu melden, um die Rekrutierung durch die SS zu vermeiden. Offiziell war der SS-Dienst freiwillig, doch die Praxis sah anders aus. Eines Nachts wurden alle unverheirateten jungen Männer auf den Schulhof kommandiert, wo ein Sturmbannführer eine "donnernde Ansprache über Krieg, Vaterland und Pflicht" hielt. Sie endete mit dem faktischen Befehl: "Freiwillige vortreten!" Man kann sich leicht vorstellen, daß die ohnehin von der Situation überforderten jungen Menschen in einen unentrinnbaren, gruppendynamischen Sog gerieten. Staden hatte als einziger die rettende Bescheinigung der Wehrmacht in der Tasche und mußte trotzdem, als Feigling beschimpft, allen Mut zusammennehmen, um die Aufforderung zu ignorieren. Rückblickend fragt er sich, warum er seine Landsleute nicht gewarnt hat, und kommt zu dem ehrlichen Schluß. "Mein Wille und mein Mut reichten, um mich selbst dem Zwang zu entziehen. Zum Widerstand reichte es nicht."

Die Sorge um das Schicksal des Baltikums, das den Sowjets schutzlos preisgegeben ist, ließ ihn nicht los. Im Krieg gegen Rußland sah er folgerichtig das "Fanal eines Kreuzzuges. Nicht nur galt es die Heimat, nein, es galt Europa von der Geißel des Bolschewismus zu befreien." Er gehörte der Abwehr des Admiral Canaris an. Ihre Effektivität schätzt er allerdings gering ein. In den Reihen der Offiziere wurde illusionslos konstatiert, daß seit dem mißglückten Hitler-Attentat keine Chance mehr für einen halbwegs ehrenhaften Friedensschluß besteht. Ende August 1944 mußte Estland wieder geräumt werden. Staden: "Was hatten wir angerichtet! Erst hatten wir die Balten verraten und verkauft, dann sie geknebelt und am Ende nicht schützen können."

Im zweiten Teil berichtet er über seine Kriegsgefangenschaft in Schleswig-Holstein, über den Lehrgang auf der Diplomatenschule in Speyer und die Tätigkeit im Rußland-Referat des Außenamtes. Lesenswert sind auch seine Innenansichten von der EWG-Kommission in Brüssel, die er ab 1958 als Abteilungsleiter beim Kommissionspräsidenten Walter Hallstein gewann.

Die Passagen, in denen Staden die Unabhängigkeitsfeiern im heutigen Zaire vom Sommer 1960 schildert, sind allerdings von unfreiwilliger Komik. Noch immer kann der Autor vor Empörung über die Rede des Ministerpräsidenten Patrice Lumumba ("von mittlerer Bildung, ein ehemaliger Postangestellter") kaum an sich halten. Lumumba hatte sich erfrecht, Belgiens "patriarchalische Kolonialherrschaft in Ausdrücken, die von den Belgiern als beleidigend empfunden werden mußten", anzuprangern, anstatt der abgehalfterten Kolonialmacht "für ihr Zivilisationswerk zu danken". Gegen diese schwarzafrikanische Frechheit stand die "unerschütterliche Haltung des jungen Monarchen" Baudouin. Das ist, wohlgemerkt, völlig unironisch gemeint. Hoffentlich war es Scham, die den belgischen König auf seinem Stuhl festnagelte. Immerhin hatte Belgiens jahrzehntelanges Zivilisationswerk zehn Millionen Afrikanern durch Zwangsarbeit, Verschleppung, Hunger, Gewalt das Leben gekostet. Baudouins Ahne, König Leopold, hatte die Kongo-Kolonie jahrzehntelang wie seinen Privatbesitz behandelt und Sklaven, die das Arbeitsoll nicht erreichten, die Hände abhacken lassen. Heute wäre dieses gekrönte Haupt ein Fall für das Haager Kriegsverbrechertribunal. Daß Lumumbas Ermordung 1961 unter aktiver Mithilfe der "unerschütterlichen" Belgier stattfand, fällt bei Staden natürlich ebenfalls unter den Tisch.

In den Kapiteln über die Jahre nach 1945 ist dem Autor leider das Baltikum aus dem Blick geraten. Aber vielleicht plant Staden dazu ja noch ein drittes Buch oder zumindest einen Aufsatz. Ältere Leser werden in Stadens Memoiren viele eigene Erfahrungen wiederfinden. Den jüngeren eröffnen sie das Verständnis für die Umstände, Konflikte und Nöte dieser Generation.

 

Berndt von Staden: Ende und Anfang. Erinnerungen 1939–1963. IPa Verlag, Vaihingen/Enz 2001, 233 Seiten, geb., 29,80 Mark


 
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