© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
Noch kein Paradigmenwechsel erkennbar
Bildungspolitik: Deutschlands technologische Leistungsfähigkeit ist in Gefahr
Rolf Helfert

Letzte Woche stellte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn (SPD), ihren Bericht "Zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2000" in Berlin vor. Die Ministerin entwarf ein differenziertes Bild der Lage.

Seit 1997 stiegen die Ausgaben der deutschen Wirtschaft für Forschung und Entwicklung um etwa 21 Prozent. Gegenwärtig erzielten deutsche Unternehmen gut sechs Prozent ihres Umsatzes auf der Basis von Marktneuheiten. Deutschland habe in Europa die meisten innovativen Unternehmen. Allerdings hätten sich die einzelnen Branchen sehr unterschiedlich entwickelt. Die meisten Neuprodukte bringe die Automobilindustrie hervor, die ein Viertel aller Gelder verausgabe, welche die deutsche Industrie für Forschungszwecke aufwendet. Andere industrielle Bereiche, vor allem Chemie und Elektronik, erhielten dadurch Wachstumsimpulse. Beinahe die Hälfte aller europäischen Patentmeldungen, die den Kraftfahrzeugbau betreffen, stammten aus Deutschland. Der Welthandelsanteil deutscher Autos liege bei 20 Prozent; seit 1991 erhöhte sich die Exportrate der einheimischen Kfz-Industrie um die Hälfte. Der harte internationale Preiswettbewerb sowie der Mangel an Fachkräften stellten die Automobilbauer vor neue Probleme.

Dort jedoch, wo laut der 50jährigen früheren Studienrätin aus Hannover die "Zukunftsmusik" spielt, in der Pharma- und Biotechnologie, fand Deutschland bisher nicht den Anschluß zur Weltspitze. Hier dominieren die USA. Für Deutschland konstatierte die Bildungsministerin einen immer größeren Mangel an Patenten und neu zugelassenen Arzneien. Verursacht werde diese Krise nicht nur dadurch, daß die Pharmaindustrie zu wenig forsche. Vor allem habe sie noch nicht den "Paradigmenwechsel" von der Chemie zur Biologie vollzogen. 41 Prozent der internationalen Neuerungen im Pharmabereich enthalten biotechnologische Aspekte. Soweit Deutschland betroffen ist, stünden Hochschulen, Institute und kleine Biotech-Unternehmen an der Spitze der Forschung, die biowissenschaftliche Ziele verfolge. Bulmahn plädierte dafür, daß Hochschulen, Forschungsinstitute, Biofirmen und große Pharmakonzerne künftig stärker zusammenarbeiten.

Hinsichtlich der Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK), welche besonders große Wachstumspotentiale enthalte, hole Deutschland den USA gegenüber auf. Die IuK-Branche trage gut 20 Prozent zum jährlichen deutschen Wirtschaftswachstum bei und werde verstärkt durch die "Old Economy" genutzt.

Aber es fehle an Fachkräften. In den nächsten zwei Jahren benötige die deutsche Wirtschaft etwa 350.000 IuK-Spezialisten, außer Informatikern auch Ingenieure und Physiker, die über Kenntnisse der Informations- und Kommunikationstechnologie verfügen. Daher will die SPD-Politikerin die "Green Card"-Kampagne auf Wunsch vieler Unternehmen beibehalten, obwohl es derzeit weit mehr Studienanfänger im Fach Informatik gebe als früher. Bis Ende 2005 sei damit zu rechnen, daß die Zahl der Informatik-Absolventen um das Doppelte steige. Das "Sofortprogramm zur Weiterentwicklung des Informatikstudiums an Hochschulen in Deutschland", das die Bundesregierung schuf, zeige bereits Wirkung.

Bulmahn, seit 1995 Vorsitzende des Wissenschaftsforums der SPD, beklagte den Mangel an Studienabsolventen in naturwissenschaftlich-technischen Fächern und versprach, eine "breitangelegte Werbekampagne" zu organisieren, die darauf abziele, frühzeitig mehr Interesse für Naturwissenschaften zu wecken und besonders "das Potential weiblicher Studienanfänger zu mobilisieren".

Überhaupt hinke Deutschland bei der Studierneigung anderen europäischen Ländern hinterher. Nur 28 Prozent eines Jahrganges beginnen in Deutschland ein Studium, während der OECD-Durchschnitt bei 40 Prozent liege. Mittels ihrer Bafög-Reform wolle die Bundesregierung mehr junge Menschen ermuntern, ein Studium aufzunehmen. Nach wie vor gewähre die Bundesregierung Wissenschaft und Forschung höchste Priorität, sagte die SPD-Politikerin. Der umfangreiche Gesamtbericht des Bundesbildungsministeriums ist im Internet unter www.bmbf.de  einzusehen.

Daß es eine vergleichbare Pressekonferenz zur Lage der deutschen Geistes- und Kulturwissenschaften, deren Anliegen keine Lobby vertritt, geben könnte, bleibt wohl ein frommer Wunsch.


 
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