© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/01 16. März 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Totenglocken läuten für die Ukraine
Carl Gustaf Ströhm

Wenn der Finanzmogul George Soros für jemanden die Totenglocke läutet, dann läßt das aufhorchen. Vor wenigen Tagen hat Soros – der einst das britische Pfund durch Spekulationen in die Knie zwang und auch an der asiatischen Währungskrise nicht unbeteiligt gewesen sein soll – der Ukraine ein düsteres Schicksal prophezeit. Die Zukunft der Ukraine stehe auf des Messers Schneide, und es sei nicht ausgeschlossen, daß das Land demnächst wieder in den Schoß Moskaus zurückkehre.

Der Machtkampf um den angeschlagenen Präsidenten Leonid Kutschma, der beschuldigt wird, die Ermordung des unbequemen Journalisten Georgij Gongadse veranlaßt zu haben – was Kutschma energisch bestreitet –, verwandelt sich zu einer Zerreißprobe. Die Ukraine ist mit etwa 50 Millionen Einwohnern politisch, strategisch und wirtschaftlich von großer Bedeutung. Eine unabhängige stabile Ukraine bedeutet die Zurückdrängung des russischen Machtstrebens um viele hundert Kilometer nach Osten. Die Ukraine sollte also nicht nur ein Partner der EU, sondern ein Garant für Sicherheit und Stabilität im Raum zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, von Rumänien bis ins Baltikum, sein.

Statt dessen befindet sich das Land ökonomisch im freien Fall. Es ist ihm im vergangenen Jahrzehnt nicht gelungen, wirtschaftliche und politische Stabilität zu gewinnen. Daran mag Präsident Kutschma, der selber ein Produkt der KP-Nomenklatura ist, mitschuldig sein. Aber die Tatsache, daß sich in der Ukraine alle Kinderkrankheiten und Fehlentwicklungen der "Wende", die mehr oder weniger auch in den anderen postkommunistischen Ländern vorkommen, geradezu potenzierten, ist nicht Schuld eines Einzelnen. Nicht einmal eine gut organisierte mafiotische Seilschaft könnte solch katastrophale Ergebnisse produzieren.

In erster Linie ist die Ukraine eines der am schrecklichsten zugerichteten Opfer des Kommunismus. Stalin hat bereits in den dreißiger Jahren den einstmals wohlhabenden und selbstbewußten ukrainischen Bauern durch die Auslösung einer künstlichen Hungersnot mit Millionen von Toten das Genick gebrochen. Die ukrainische Nationalidee wurde im Sinne von Sowjetisierung und Russifizierung blutig verfolgt: So verlagerte sich das Zentrum der nationalukrainischen Bewegung ins galizische Lemberg und in die Westukraine, die bis 1918 österreichisch und danach polnisch beherrscht war. Auch hier richteten die Sowjets 1940/41 Blutbäder unter der nationalukrainischen Intelligenz an, aber sie konnten in der relativ kurzen Zeit die ukrainische Substanz nicht zerstören. So herrscht in Lemberg heute eine ganz andere Atmosphäre als in Kiew oder Charkow, wo der (sowjet-)russische Druck am stärksten war und ist.

Sollte die Zentralregierung in Kiew irgendwann beschließen, mit Moskau eine neue "Union" einzugehen, muß mit Widerstand in der Westukraine – bis hin zu Bürgerkrieg und Ausrufung eines Separatstaats – gerechnet werden. Hier spielt auch die Religion eine Rolle: in der Westukraine sind die Unierten stark, die zwar den orthodoxen Liturgie folgen, aber den Papst als Oberhaupt anerkennen. Die orthodoxe Mehrheit zerfällt in drei Kirchen: eine, die dem Moskauer Patriarchat untersteht – und zwei orthodoxe ukrainische Nationalkirchen. Eine dieser Kirche war bis 1991 im westlichen Exil tätig.

Wenn die Ukraine scheitern sollte, muß sich der Westen fragen, ob nicht auch er versagt hat. Man hat eben nur nach Moskau gestarrt und den "weichen Unterleib" ignoriert. Ohne eine funktionierende Ukraine aber gibt es keine europäische Sicherheit.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen