© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/01 02. März 2001

 
Ein Tanker schlägt leck
Medien: Die Entlassung ihres Mitherausgebers Hugo Müller-Vogg markiert den vorläufigen Tiefpunkt einer Krise der "FAZ"
Karlheinz Weißmann

Anfang des Jahres brachte die Frankfurter Allgemeine – zeitgleich mit der New York Times – die Ergebnisse einer merkwürdigen Erhebung. Deren Thema lautete: "Welche Fragen sind verschwunden?" Und es waren nach Meinung der Teilnehmer viele Fragen verschwunden, etwa die nach dem "Warum?" oder "Hat Er, der die Haplochromiden schuf, auch dich gemacht?" Der Computerexperte David Gelernter glaubte, die Frage "Wie erziehen wir die Massen?" sei erledigt, allerdings nicht zum Vorteil des Menschengeschlechts. Zum einen, erklärte Gelernter, sei der Plan, die Bevölkerung insgesamt aufzuklären und an den Segnungen der Kultur teilhaben zu lassen, ohne Zweifel gescheitert. Heute gehe eine "gebildete Elite" ebenso zynisch wie pragmatisch davon aus, daß es genüge, wenn die eigenen Nachkommen an den geistigen Gütern teilhätten: "Wir neigen dazu, unseren Kindern zu erklären, es sei das wichtigste Ziel im Leben, Reichtum zu erlangen, berühmt zu werden und die anderen herumzukommandieren." Das führe zu einer bedenklichen intellektuellen und emotionalen Verarmung, und der sei nur zu begegnen, wenn man eine Kehrtwende vollziehe, und die alten, angeblich überholten Fragen neu stelle, vor allem, wenn man sich wieder um die Inhalte von Informationen kümmere, und nicht nur um deren attraktive Verpackung: "Wir verfügen durchaus über die Voraussetzungen für die größte kulturelle Wiedergeburt der Geschichte."

Was dieser "Wiedergeburt" vor allem im Wege steht, ist die Tendenz der modernen Massenmedien zu immer stärkerer Nivellierung, die Bereitschaft, kulturelle Bestände zu verbrauchen, um einem vermuteten oder tatsächlich vorhandenen Unterhaltungsbedürfnis zu dienen. Diesem "Sachzwang" unterwerfen sich zunehmend auch die seriösen, aus einer ganz anderen Epoche in unsere Informationsgesellschaft hineinragenden publizistischen Organe, selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Die personellen oder personalpolitischen Schwierigkeiten der FAZ sind deshalb nur die Außenseite eines tieferliegenden Problems. Das trifft auch für den "Fall Müller-Vogg" zu, von dem die Öffentlichkeit durch eine dürre Mitteilung in der Ausgabe vom 22. Februar erfuhr. Es habe sich, so hieß es, eine "Änderung im Herausgeber-Gremium" vollzogen: Dr. Hugo Müller-Vogg, bis dahin zuständig für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und die regionale Rhein-Main-Zeitung sei "... ausgeschieden, weil die anderen Herausgeber keine Grundlage für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihm sahen". Müller-Vogg, Jahrgang 1947, war seit 1977 Mitarbeiter des Wirtschaftsressorts der FAZ und von 1984 bis 1988 Korrespondent in New York, nach seiner Rückkehr dann einer von fünf Herausgebern. Aufgrund der besonderen Spitzenorganisation der Frankfurter Allgemeinen – es gibt keinen Chefredakteur, sondern eben die fünf, jetzt vier Herausgeber, die für jeweils einen Bereich der Zeitung zuständig sind – bedeutet der Abgang Müller-Voggs einen erheblichen Eingriff in die Struktur des Blattes. Schon deshalb schießen Spekulationen ins Kraut.

Kontroverse um "medialen Flankenschutz" für Fischer

In welche Richtung die Mutmaßungen gehen, hat eine weitere Meldung in der gleichen Ausgabe, ebenfalls auf der ersten Seite plaziert, gezeigt: Dort wird auf die einstweilige Verfügung hingewiesen, die die FAZ gegen den Springer-Konzern erwirkt habe, der in der Zeitung Die Welt – angeblich fälschlich – berichtet habe, es gebe einen "Richtungsstreit" in der Frankfurter Allge-meinen, ausgelöst durch einen Konflikt über die Einschätzung der linksradikalen Vergangenheit Joschka Fischers. Zwar ist für den Außenstehenden nicht erkennbar, worin die falsche Tatsachenbehauptung der Welt bestand, aber immerhin hat sie sich der Forderung nach Unterlassung entsprechender Aussagen gefügt.

Ihr Mitarbeiter war aufmerksam geworden auf einen Artikel von Müller-Vogg in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in dem er sich scharf gegen die "Fischer-Freunde" ausgesprochen hatte, vor allem soweit sie dem Außenminister "medialen Flankenschutz" leisteten: "Viele Chefredakteure und Kolumnisten", so Müller-Vogg, "... tun dies häufig mit Blick auf die eigene Biographie und folglich im eigenen Interesse". Der Angriff zielte nicht nur auf die kleine Gruppe von Apo-Veteranen, die direkten Einfluß auf die Medien ausüben können, sondern mehr noch auf die weit größere Zahl der Jüngeren, die sich nicht gegen das "Klima der Einschüchterung und des Terrors von links" in den siebziger Jahren zur Wehr gesetzt haben und jetzt fürchten müssen, als Mitläufer und Anpasser dazustehen.

Die Welt hatte gemutmaßt, daß diese Äußerungen als verdeckter Angriff auf die abwiegelnde Darstellung der Kampfzeit Fischers durch mindestens zwei weitere FAZ-Herausgeber – Frank Schirrmacher und Günther Nonnenmacher – zu verstehen seien. In dem Zusammenhang wurde auch auf einen anonym gebliebenen "Mitherausgeber" (Müller-Vogg?) verwiesen, der beklagte, politische Einschätzungen wie die jetzt im Blick auf Fischer formulierten wären früher in der Frankfurter Allge-meinen ausgeschlossen gewesen.

Es spricht viel für diese Annahme. Die Zeiten haben sich geändert, auch und gerade in der FAZ. Etwas schnoddrig, aber in der Sache zutreffend, brachte es die Zeitschrift Spiegelreporter vor Jahresfrist auf die Formel: "Die Frankfurter Allgemeine war eine zuverlässige Trutzburg wider den Zeitgeist – bis die Berliner Republik über das Land kam und Unordnung brachte in die Zeitungssekte". Das Renommee, das die FAZ in der Vergangenheit besaß, hing nicht nur mit der außerordentlichen Qualität ihrer Mitarbeiter und dem hohen Niveau der Beiträge zusammen, sondern auch mit einem Konservatismus im Schwebezustand, der nie ganz parteilich wurde. Das früher erzwungene Ausscheiden von Herausgebern, Paul Sethe in den fünfziger, Jürgen Tern zu Beginn der siebziger Jahre, war immer darauf zurückzuführen, daß die aus diesem Konzept resultierende Mäßigungspflicht verletzt worden war. Sethe hatte Adenauers Politik der Westbindung in Frage gestellt, Tern sich allzu weit Brandts Neuer Ostpolitik genähert. Wenn jetzt Müller-Vogg seine Position verliert, dann scheint das der älteren politischen Linie der Frankfurter Allge-meinen zu widersprechen, es sei denn, man interpretiert es zu einer grundsätzlich gouvernementalen Ausrichtung um.

Üppige Inszenierungen statt seriöser Information

Wahrscheilich geht es bei dem ganzen Vorgang aber nur am Rande um "Liberalisierung" oder "Linksruck", eher um die Vollendung eines Generationen- und Paradigmenwechsels. Müller-Vogg war aufgrund seines Geburtsjahrgangs einer der Senioren unter den Herausgebern, und er gehörte zu den journalistischen Vertrauensmännern Helmut Kohls. Er stand aber auch weltanschaulich einem Modell FAZ nahe, wie es von Männern wie Fritz-Ulrich Fack, Joachim C. Fest und Johann Georg Reißmüller bis zur Mitte der neunziger Jahre bestimmt worden war. Sie hatten als Herausgeber eine Mischung verbürgt, die man auf die Formel "Schwarz-Rot-Gold" bringen konnte: ein eher konservativer Politikteil, ein eher progressives, jedenfalls für die intellektuelle Linke offenes Feuilleton, und ein marktliberaler Wirtschaftsteil. Damit konnte sich die Frankfurter Allgemeine in der alten Bundesrepublik als Meinungsführer eines sehr großen Teils der Bürgerlichen etablieren. Seit den achtziger Jahren verschoben sich aber die Koordinaten. Das hatte zwar auch mit der Aufgabe konservativer Positionen zu tun, aber mehr noch mit einer allgemeinen – wenn man so will: postmodernen – Tendenz zur Entpolitisierung, die nicht nur, aber vor allem Schirrmacher forcierte.

Signifikant war eine der Neurekrutierungen für die Kultur, der Vordenker der "Generation Golf", der Jungliterat Benjamin von Stuckrad-Barre, dessen dandyhaftes Gebaren wohl zu eigentümlichen Neigungen anderer Mitarbeiter des Feuilletons paßt (zum Beispiel die Leidenschaft für den authentischen "Donaldismus"), aber auf die Dauer Redakteure irritieren mußte, die wie Konrad Adam oder Eckhard Fuhr eine traditionellere Vorstellung von gutem Journalismus vertraten. Daß diese beiden im vergangenen Jahr zur Welt wechselten, kann nicht einfach auf politische Differenzen zurückgeführt werden, es sei denn Fuhr kommt als Linksabweichler – seine Sympathie für die Regierung Schröder war unübersehbar – und Adam als Rechtsabweichler in Betracht. Es ging eher um den Unmut, den die nachhaltige Störung des Gesamtkonzepts verursachte, das bisher das Gesicht der FAZ bestimmt hatte. Adam legte in einem denkwürdigen Akt der Indiskretion seine Auffassung über den von Schirrmacher gesteuerten Kurs dar und brachte ihn auf den auf den Begriff "Wissenschaftstheater". Schirrmachers Vorliebe für die Genetik und neue Entwicklungen in der Bioethik hätten nichts mit Information und nichts mit der Verantwortung des Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit zu tun. Hier gehe es einfach um Selbstinszenierung und den Versuch, von unangreifbarer Stellung aus die Meinungsführerschaft an sich zu bringen.

Schirrmacher sei ein Showmaster wie Gottschalk, nur daß er es mit Genomsequenzen statt mit Gummibärchen habe: "Der Abstand zwischen dem Redakteur und dem Regisseur schwindet und macht den einen anfällig für dieselbe Krankheit, an der auch schon der andere leidet, den Größenwahn. Für beide kommt es nicht mehr auf die Sache, den Text, das Bild oder sonstwas an, sondern darauf, daß man die Szene so einrichtet, daß alles möglichst laut und grell und üppig wirkt ..."

Seit 1996 haben immer wieder einzelne oder gleich ganze Gruppen von Mitarbeitern das einflußreichste Feuilleton des Landes verlassen, um bei irgendwelchen anderen – allemal weniger angesehenen Blättern – unterzukommen. Zuerst Jens Jessen, Jan Ross, Gustav Seibt und Stephan Speicher, die zur Berliner Zeitung (Ross später zur Zeit) wechselten, die damals versuchte, ein niveauvolles Hauptstadtblatt zu machen, zuletzt das Trio Ulrich Raulff (Feuilleton-Chef), Franziska Augstein (Kulturkorrespondentin) und Thomas Steinfeld (Literatur-Chef), die zum Frühjahr bei der Süddeutschen Zeitung unterkommen (die JF 8/01 berichtete). Hatte Schirrmacher Abgänge bis dato kaum kommentiert, so ließ er jetzt seinem Unmut freien Lauf; sogar von "Vampirismus" war die Rede, die FAZ drohe zum "Talentpool für andere Blätter" zu verkommen.

Die "Stimme der Nation" verfällt dem Zeitgeist

Wer je mit einem Redakteur der Frankfurter Allgemeinen zu tun hatte, weiß, wie klar der "Blattpatriotismus" (Die Welt) befiehlt, Interna als Interna zu behandeln. Man muß sich deshalb bei jeder Analyse der Vorgänge in der FAZ auf Indizien stützen. Allerdings sind die bei einer gewissen Dichte aussagekräftig und deuten auf tief sitzende Schwierigkeiten, vielleicht sogar auf die Krise einer Zeitung, die das Gesicht der Bonner Republik wesentlich mitbestimmt hat.

Die FAZ war von ihrem ersten Herausgebergremium – Hans Baumgarten, Erich Dombrowski, Karl Korn, Paul Sethe, Erich Welter – als "neuer Typ von Zeitung" gedacht gewesen. Obwohl es personelle Verbindungslinien zur alten großbürgerlich-liberalen Frankfurter Zeitung gab (deren Wiederzulassung die Alliierten 1945 untersagt hatten), strebte man doch keine Kopie der FZ an. In einer Phase, in der Deutschland ohne jede wirkungsvolle Präsentation nach außen war, sollte die "Zeitung für Deutschland" auch und gerade als "Stimme" der Nation gehört werden. Die FAZ hat diese Funktion über einen langen Zeitraum eindrucksvoll erfüllt. Es sieht allerdings so aus, als ob sie ihren früheren Rang nachhaltig gefährde – der Weggang von Müller-Vogg ist nur ein weiteres Symptom dafür.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium.


 
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