© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/01 16. Februar 2001

 
Ohne jede Spur
Kriminalität: Nordhessen entwickelt sich zur Drehscheibe des Menschenschmuggels
Martin Lohmann

In zahlreichen Bewerbungen um Firmenansiedlungen wirbt Nordhessen-Kassel, das wirtschaftliche Schlußlicht Hessens, mit seiner zentralen Mittellage in Deutschland und den günstigen Straßenverbindungen in alle Himmelsrichtungen. Dieser Standortvorteil hat sich in der wirtschaftlichen Entwicklung bisher nur unzureichend bemerkbar gemacht. Dafür ist aber Menschenschmugglern diese für ihr illegales Gewerbe äußerst günstige Situation umso bewußter geworden.

In fast wöchentlicher Regelmäßigkeit werden in dieser Region seit November vergangenen Jahres zumeist Flüchtlinge aus Afghanistan, die aufgrund eines im August vergangenen Jahres ergangenen Urteils des Bundesverfassungsgerichtes durch die inneren Verhältnisse in ihrem Heimatland einen besonderen Aufenthaltsstatus als "nichtstaatlich Verfolgte" genießen, von bislang unerkannten Menschenschmugglern ausgesetzt. Die Täter gehen dabei immer nach dem gleichen Schema vor: ein Lastwagen setzt am hellichten Tag an einer beliebigen Stelle auf einer der drei bei Kassel zusammentreffenden Autobahnen oder in deren näheren Umgebung eine Gruppe von zehn bis dreißig Personen aus, die unmittelbar nach erkennungsdienstlicher Behandlung durch die Polizei politisches Asyl beantragen. Die Flüchtlinge machen in der Regel keinen erschöpften Eindruck, ihre Reise nach Deutschland muß offenbar sehr kurz gewesen sein. Von den Tätern, die in jede beliebige Richtung weitergefahren sein können, fehlt trotz intensiver Suche bislang jede Spur.

Erst vorvergangenen Dienstag wurden die Schmuggler wieder aktiv. Sie setzten zur Mittagszeit im Kasseler Gewerbegebiet Waldau eine Gruppe von 20 Afghanen aus. Zeugen zufolge sollen aber mehr Personen den Lkw verlassen haben, als sich hinterher bei der Polizei gemeldet haben. Obwohl durch die zufällige Anwesenheit von Reportern des lokalen Anzeigenblättchens Extra Tip, die in der Nähe des Tatorts den Vorgang beobachten konnten, eine rasche und genaue Beschreibung des auffälligen Lkws an die Polizei gegeben werden konnte, sind die Täter auch dieses Mal nicht gefaßt worden. Bislang sind nach Angaben des Extra Tip seit November 1999 auf diese Weise bei 19 Großschleusungen 635 Personen illegal nach Deutschland eingewandert.

Schwere Vorwürfe gegen den zuständigen Bundesgrenzschutz erhebt indes der Chefredakteur des Kasseler Extra Tip, Klaus Becker. In einem am vergangenen Sonntag erschienenen Kommentar warf er der Behörde offenkundige Untätigkeit vor: "Nach der letzten Aktion, die auch wir direkt vor Ort miterlebt haben, habe ich beträchtliche Zweifel. Zweifel an der Ernsthaftigkeit, an der Professionalität der Fahndung." Becker verglich die mangelnden Fahndungserfolge mit einer Bankrotterklärung der für die innere Sicherheit zuständigen Stellen.

Das ZDF thematisierte am 7. Februar in der Dokumentation "Schattenwelt – Illegale in Deutschland" das Schicksal der hier illegal lebenden Zuwanderer. Danach leben bereits 500.000 bis eine Million Illegale in Deutschland. Diese fristeten zumeist in illegalen Beschäftigungsverhältnissen, vornehmlich in der Baubranche, der Gastronomie sowie der Landwirtschaft, ein klägliches Dasein ohne jede soziale Absicherung.

Unterdessen äußerte sich die Menschenrechtskommissarin der UNO, Mary Robinson, besorgt darüber, daß die illegal Einreisenden zunehmend die Diskussion unter den europäischen Regierungen über die Zuwanderung beherrschen. Sie empfahl den Regierungen, eine Politik für rechtmäßige Flüchtlinge betreiben. Dabei bekräftigte sie die UN-Position, daß Europa aufgrund der Überalterung und des zunehmenden Arbeitskräftemangels auf dem Kontinent verstärkte Zuwanderung benötige.


 
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