© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/01 09. Februar 2001

 
Das Prinzip des größten Widerstands
Das Leben des genialen deutschen Schachweltmeisters Emanuel Lasker
Jürgen K. Hultenreich

Der Sportreporter der New York Times, kaum Halma von Schach unterscheiden könnend, kritzelte begeistert auf seinen Block: "Jetzt floß Blut. Feldmarschall Steinitz ließ sein mutiges Pferd mitten zwischen die tapferen Verteidiger springen und Schach sagen. Doch erbarmungslos wurde das arme Tier von einem schwarzen Bauern aufgespießt. Dieser wiederum ließ sein Leben durch einen hinterhältigen weißen Läufer, der kurz auflachte, was ein großer Fehler war, denn sofort brachte man auch ihn zur Strecke und halbtot ins Lager des kühnen, gegnerischen Feldherrn ...".

Wilhelm Steinitz sprang wütend vom Schachtisch hoch. Nur die Anwesenheit vieler Journalisten verhinderte, daß er aus- oder seinem Bezwinger vielleicht sogar ins Gesicht spuckte. "Revanche!" schrie er, "sofort!" Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Neuer Schachweltmeister wurde an diesem 26. Mai 1894 ein schmaler, sorgfältig gekleideter, grüblerischer Deutscher mit Schnurrbart und Kneifer. Fünfundzwanzig Jahre alt, wenig internationale Erfahrung, ein Jahr zuvor nach Amerika ausgewandert. Die Europäer hatten diesen "talentierten Nachwuchsspieler" beinahe schon vergessen. Sicher, bei Wettkämpfen in Berlin, Leipzig, London war man auf Emanuel Lasker aufmerksam geworden, aber den unüberwindlichen Steinitz zu schlagen, das traute ihm keiner zu. Trotzdem atmete die Schachwelt auf: Steinitz, längst hoch in den Fünfzigern, war nicht nur der erste anerkannte Weltmeister in dieser Sportart, sondern auch unbeliebtester Spieler aller Zeiten. Er rang mit der Welt, und die Welt mit ihm. In der Londoner Schachzeitschrift Westminster Papers stand 1875: "Jeder, der den großen Schachspieler kennt, weiß, daß er zu seinem Unglück an dem Wahn leidet, alles, was auf der Welt geschieht, bezöge sich in irgendeiner Weise auf ihn." Er galt sogar als schlechter Gewinner.

Unterlegene Gegner demoralisierte er durch Anspucken. Nur ein einziges Mal geriet er an den Verkehrten. James Henry Blackburne – aus mehreren Gründen den Beinamen "black death" führend – schleuderte ihn daraufhin jählings mit dem Kopf durch eine Fensterscheibe. Der Geschleuderte hatte Glück. Das Turnier fand parterre statt. Geriet Steinitz in Wut, benahm sich dieser kaum 1,50 Meter große, von Geburt an verkrüppelte, auf Krücken humpelnde, kurzsichtige, plattnasige, speckschädlige, von Hämorrhoiden und Arthritis geplagte Böhme geradezu viehisch. "Das reinste Stachelschwein", kommentierte ein Zeitgenosse, "wo immer man ihn anfaßt, sticht man sich."

Dieses Monster also hatte der junge Lasker in New Yorker Union Square Hotel, danach im Cosmopolitan Club in Philadelphia sowie das Match abschließend in Montreal mit zehn Gewinn-, fünf Verlust- und vier Remispartien bezwungen. Bei einer Bedenkzeit von 15 Zügen pro Stunde. Die für damalige Verhältnisse unglaubliche Summe von 4.000 Dollar konnte er gut gebrauchen, war er doch einer der ersten Berufspieler. Steinitz tobte und gab als Grund für seine miserable Leistung Schlaflosigkeit an. Auf die geforderte Revanche mußte er zwei Jahre warten. Lasker liebte es auch späterhin nicht, leichtfertig seinen Titel aufs Spiel zu setzen. Das Ergebnis des Rückkampfs 1896 überzeugte selbst die letzten Zweifler. Lasker gewann bei fünf Remisen überlegen mit 10:2. Nun erst war die Schachwelt hingerissen.

Lasker, eine vielseitig veranlagte Persönlichkeit, spielte nicht nur mit den Damen aus Holz. Er war Philosoph ("Das Begreifen der Welt", 1913; "Philosophie des Unvollendbaren", 1919), promovierter Mathematiker ("Zur Theorie der Modale und Ideale"), Dichter, Dramatiker ("Vom Menschen die Geschichte", 1925 in Berlin uraufgeführt) und auch bedeutender Kartenspieler (Verfasser eines Bridge-Buches). Geboren am 24. Dezember 1868 in der brandenburgischen Provinzstadt Berlinchen, als Sohn des Kantors der örtlichen Synagoge, ging er mit elf (!) Jahren nach Berlin, um Mathematik zu studieren. Sein älterer Bruder, bei dem er wohnte, brachte ihm das Spiel bei. Geld war für beide knapp, und so verdiente sich das junge Talent in den Schachclubs – bevorzugt im Cafe Kaiserhof –, wo man um kleine Einsätze zockte, etwas dazu. Schon damals stürzte er berühmte Angreifer mit seinem "Prinzip des größten Widerstands". Er suchte nicht, wie bis dahin üblich, nach dem objektiv besten Zug, sondern nach dem für seinen Kontrahenten "unangenehmsten". Eines seiner philosophischen Werke heißt nicht umsonst "Kampf"; Kampf war für ihn auch im Schach oberster Leitgedanke. In zweischneidigen Stellungen blühte er auf, lockte den Gegner kaltblütig bis an den Rand des Abgrunds und zwang ihn, wie sein bislang einziger Biograph Hannak bildhaft schrieb, so lange mit ihm auf einem schmalen Grat zu wandeln, bis der andere strauchelte und abstürzte.

Nach ersten Turniererfolgen, unter anderem in Breslau und Amsterdam, fuhr er nach London, um die "europäische Bastion" Blackburn herauszufordern. Er walzte ihn 6:0 nieder. Ganz England war entsetzt. Unser Meister soff während des Spiels entschieden zu viel, hieß es. Nun geriet Weltmeister Steinitz ins Visier. Aber der lebte in den USA. Also dampfte Lasker los, "arm wie eine Kirchenmaus", kam glücklich an, quartierte sich ein, übte fleißig, studierte die Psyche des Weltmeisters und ließ ihm dann einen Brief überbringen, in dem ein freundlicher Kampf um die Krone angeboten wurde – man weile gerade zufällig in New York, wolle die Zeit ein wenig nutzen, und gänzlich unbekannt sei man schließlich auch nicht, einen Blackburn, immerhin europäische Spitze, müsse man erst mal so erledigen wie er. Solche Gepflogenheiten waren damals üblich. Der Weltmeister konnte annehmen oder ablehnen. Steinitz, der kurz zuvor erst den gefürchteten Tschigorin zerschmettert hatte, nahm an. Kann er gewußt haben, wie gut und mit welch neuen Methoden sein Herausforderer spielte? Man wagt es zu bezweifeln. Wahrscheinlich glaubte er, die Begegnung werde für den unerfahrenen jungen Deutschen als Debakel enden. Genau umgekehrt. Nie wieder sollte er seine alte Spielstärke erreichen.

Als Weltmeister erwartete Lasker nun entsprechende Honorare. Er scheute sich nie, Turnierveranstaltern klarzumachen, daß sie für ihn schon etwas tiefer in die Tasche greifen müßten. Auf allen anderen Gebieten jedoch war dieser "unpraktischste Mensch, den er je gesehen" habe, wie die graue Eminenz der Schachwelt, Hans Kmoch, schrieb, ein miserabler Geschäftsmann, dem sämtliche nichtschachlichen Unternehmungen mißlangen. 1913, längst wieder zu Hause, wurde er plötzlich Landwirt – mit katastrophalen Erträgen. Danach Taubenzüchter. Daß er davon keine Ahnung hatte, begriff er erst, als er zwei Tauben zur Paarung verhelfen wollte, die sich nach eingehender Untersuchung als Täuberiche herausstellten. Für eine Schachzeitschrift, die man ihm zu gründen vorschlug, wollte er als erstes eine Papiermühle kaufen, um so die Kosten des Papiererwerbs gering zu halten.

Höhepunkt seiner unternehmerischen Aktivitäten aber war, daß er sein mühsam Erspartes nach dem Ersten Weltkrieg in Reichsmark anlegte. Das allgemeine Ergebnis ist bekannt. Weil er nach all diesen Pleiten, hin und wieder einen Herausforderer grandios erledigend, für die Teilnahme an internationalen Turnieren mindestens 2.000 Dollar verlangte, schimpfte man ihn geldgierig. "Ich möchte nicht als Bettler sterben", protestierte der Weltmeister. Andererseits verweigerte er sich hartnäckig dem Angebot eines befreundeten Zahnarztes, ihn gratis zu behandeln. Leistung sollte bezahlt werden. Als ihm ein wohlwollender Arzt riet, sich preiswert operieren zu lassen, lehnte Lasker mit den Worten ab: "Das gibt bloß böses Blut!" Er war sogar drauf und dran, seine Partie urheberrechtlich schützen zu lassen - eine Idee, die der nachmalige Weltmeister Robert Fischer in den sechziger Jahren wieder aufgriff. Ohne Erfolg allerdings.

27 Jahre lang, bis zu seiner Niederlage gegen den ebenbürtigen, genialen und jüngeren – so will es das ewige Gesetz – Kubaner Raoul Capablanca, blieb Emanuel Lasker Weltmeister. So lange wie bisher keiner nach ihm. Erst 1925 zog er sich vom aktiven Wettkampf zurück. Schon auf die 70 zugehend, nahm er nochmals an einem hochkarätig besetzten Turnier teil, in Moskau, spielte 19 anstrengende Runden und verblüffte die anwesende Weltelite durch keine einzige Niederlage. Nur einen halben Punkt hinter dem Sieger wurde er Dritter – vor Capablanca, den er in einer unvergänglichen, göttlichen Partie mit altersfrischem Elan bezwang. "Späte Rache!" soll er ihm lächelnd über den Tisch zugeflüstert haben. Die Zeitungen titelten: Biologisches Wunder!

Das Exil blieb ihm nicht erspart. Mit großen Umwegen über Holland und die Sowjetunion (die beginnenden Säuberungsprozesse ließen ihn äußerst mißtrauisch werden) landete die Familie in New York, wo seine Frau sich sofort abrackerte, ein paar Dollar zu verdienen, indem sie für Anwohner kochte, während der gefragte Meister Simultanvorstellungen gab, Schachlehrgänge abhielt oder Bridge-Profis um ganz schöne Beträge erleichterte. Kurz vor seinem Tod grübelte Lasker in einem Café im Beisein eines Bekannten, der später davon berichten wird, darüber nach, wie man einem Negerjungen aus dem schwärzesten Afrika beibringen könnte, daß minus eins mal minus eins gleich plus ist. "Und das", schloß er, "ist meine Meinung über den Nationalsozialismus." Nicht nur auf dem Brett war es schwierig, Laskers Gedankengängen zu folgen.

Am 11. Januar vor genau 60 Jahren starb Deutschlands einziger Schachweltmeister. Nur wenige Stunden später folgte ihm James Joyce in Zürich nach, der von Lasker sagte, er spiele so, wie er, Joyce, schreibe. "Supermann der Schachwelt" rief mit erstickender Stimme einer seiner erbittertsten Gegner ins offene Grab. Der unstete Alexander Aljechin, Bezwinger Capablancas, warf, als er von Laskers Tod erfuhr, ein schwarzes Tuch über sein kleines Reiseschach. Darunter – Zufall oder nicht – eine angefangene, nachgespielte Partie, die er einst als Weltmeister gegen Lasker, der unverdrossen am Rande des Abgrunds wandelte, nicht gewinnen und gerade noch so remis halten konnte.

 

Jürgen K. Hultenreich lebt als Schriftsteller in Berlin. Den hier abgedruckten Text haben wir mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Politik und Kultur, "Gegengift", (Edition Coko, Raiffeisenstr. 24, 85276 Pfaffenhofen) entnommen.

Literatur: Michael Dreyer / Ulrich Sieg (Hg.): Emanuel Lasker – Schach, Philosophie, Wissenschaft. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2001. 288 S., kart., 48 Mark


 
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