© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/01 09. Februar 2001

 
Ohne Anstand
In der Politik macht sich zunehmend Stillosigkeit breit
Baal Müller

Kleider machen zwar Leute, aber meistens auch nicht mehr. Zu einem Gentleman wird man noch lange nicht, nur weil man noble Nadelstreifen trägt; da helfen auch graue Schläfen und außenministerliche Sorgenfalten wenig. Ebensowenig war dieser Politiker, als er 1985 hessischer Turnschuhminister wurde, noch ein echter "Revolutionär"; eher erinnert solche demonstrativ zur Schau getragene Wurschtigkeit gegenüber früheren parlamentarischen Kleiderordnungen an flegelnde Schüler, die sich einbilden, man könne mit grünen Haaren noch jemanden provozieren. Da man heute von Bekleidungsvorschriften weitgehend "befreit" ist und überall schön "locker" herumschlurfen kann, zeigt sich Stil am ehesten noch im Verhalten – oder auch gerade nicht, wie derzeit zahlreiche Beispiele politischer Stillosigkeit verdeutlichen.

Mit politischem Stil ist es eine etwas zweideutige Sache: Man kann mit guten Gründen der Ansicht sein, daß dieser es erfordert, zu lügen, zu betrügen und dabei ein treuherziges, gutmenschliches Gesicht zu machen – nur: dann sollte man seine Rolle wenigstens gut spielen, nicht Moral predigen und dabei ein Gesicht machen wie Michel Friedmann. Derzeit wird auf der Berliner Bundesbühne ziemlich wenig Stil gezeigt, nicht der "böse" staatsmännische Macchiavelli- und Talleyrandstil, und erst recht kein "guter", ritterlicher Stil.

Was an Joschka Fischers und Jürgen Trittins Verhalten stört, ist gar nicht so sehr ihre längst bekannte Beteiligung an adoleszenten Zwergenaufständen, an Gassenrabatz von wildgewordenen dummen Jungen, der in Steine- und Brandsatzwerferei eskalierte; ebensowenig stört ihre Mitgliedschaft in sektiererischen Sponti- oder K-Gruppen und ihre etwaige Zustimmung oder schon damalige Distanzierung von "Mescalero"-Briefen in pubertären AStA-Zeitungen; vielmehr ist jedem Menschen jugendlicher Ungestüm und spätere Reifung und "Läuterung" zuzugestehen. Es ist nicht statthaft, jemandem seine Vergangenheit auch noch nach dreißig Jahren immer wieder scheinheilig vorzuhalten, vor allem wenn die eigene moralische Bastion und Trutzburg eher das berühmte Glashaus ist.

Was vor allem ärgert – oder vielleicht ab einer gewissen Übersättigung nur noch belustigt –, ist das ständige Hinterher und Hintenherum: Hinter der Kamera Schnoddrigkeit und Achselzucken, vor der Kamera dann Distanzierung und Abrücken, scheibchenweises Zugeben von dem, was jeder schon weiß, und rechthaberisches Sich-in-die-Tasche-Lügen, daß ja alles seinen guten Zweck hatte. Wohlgemerkt: Es hatte zum Teil wenigstens gute Nebeneffekte, jenseits der kindischen weltrevolutionären Ziele. Wenn etwa die sogenannte, auch heute noch ihr Unwesen treibende Städtebaupolitik immer neue Fortsetzungen der Kriegsverheerungen produziert, dann erscheint die widerrechtliche Hausbesetzung, die immerhin zum Erhalt einiger Altbauviertel führte, noch als das kleinere Übel, trotz der mahnenden Zeigefinger angeblicher Konservativer.

Wie gesagt, es ist nicht so sehr die Sache, sondern der Umgang mit ihr, der den politischen Stil ausmacht. Die Karten ein bißchen früher auf den Tisch zu legen, würde etwas mehr von Stil zeugen – und zudem sogar von Klugheit, denn man würde dem jeweiligen Gegner von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen. Statt dessen wird erst ungeschickt geleugnet, dann portionsweise zugegeben und sogleich mit dem Finger auf andere gezeigt: Äußerungen zu "Mesca-lero"-Briefen oder Prügeleien mit Polizisten sind nicht so schlimm, aber – reichlich kindische – Computerspiele der Jungen Union oder alberne Plakate von deren Mutterpartei verletzen die empfindsame Seele.

Zum Glück wird immer gerade irgendeine Kampagne gegen einen geführt, als deren Opfer man sich darstellen kann; schließlich wurde der Schlagstock einem der vermummten Autonomen, in deren Reihen Trittin 1994 demonstrierte, von der Bild-Zeitung lediglich in die Hand "retuschiert". Man male sich den umgekehrten Fall eines Konservativen oder demokratischen Rechten aus, der auf einer NPD-Kundgebung fotografiert worden wäre: Sein Argument, der Schlagstock in der Hand des Skinhead hinter ihm sei nicht echt gewesen, würde ihm in den Stürmen der journalistischen "Entrüstung" wohl nur wenig nützen.

Und – damit nicht nur die eine Seite ihre Watschen abbekommt und die andere unverdientermaßen geschont wird, was ebenfalls stillos wäre – auch die Union gibt sich zur Zeit äußerst unsicher in Stilfragen. Bei ihr zeigt sich ein ähnliches Phänomen der Stillosigkeit wie bei Fischer und Trittin: Nicht das Renten-Plakat als solches ist so schlimm – es zeugt lediglich von dem verzweifelten Bemühen der Merkel-CDU, auch einmal bissig und boshaft sein zu wollen, und ein stilsicherer Kanzler hätte solche Papiertigerattacken mit etwas Ironie auflaufen lassen –, sondern schlimm, oder eher traurig, ist die bemitleidenswerte Gestalt einer Partei, die mal so richtig auf den Putz hauen und knallharte Opposition machen wollte, und einen Tag später kleinlaut versichert, man habe es ja nicht so gemeint und werde nun wieder etwas braver sein und der Regierung aus der Hand fressen.

Die empfehlenswerteste Lösung in ähnlichen zukünftigen Fällen wäre es, vielleicht nur solche Plakat- oder sonstige Aktionen der Öffentlichkeit anzubieten, die man auch am nächsten Tag noch halbwegs guten Gewissens vertreten kann; die zweitbeste ist immernoch, ein Mißgeschick mit zähneknirschender Witzigkeit durchzustehen, aber die schlechteste ist zweifellos, erst zu bellen und hinterher zu winseln.

Das Verhalten der CDU korrespondiert in merkwürdiger Weise mit demjenigen des Außenministers: dieser spricht über seine gewalttätigen Ausschreitungen mit größtmöglicher Selbstherrlichkeit und Selbstverständlichkeit; jene entschuldigt sich für ihr Abgleiten in die Spaßgesellschaft mit demütiger Verbeugung. Die eine Seite gibt in strotzender Unbeirrbarkeit, die schon fast dem Altbundeskanzler abgeschaut sein könnte, nur das zu, was ohnehin nicht mehr bestritten werden kann, die andere Seite fletscht mit den Zähnen, spielt ein bißchen Frechdachs und schnurrt dann wieder handzahm.

Hans-Magnus Enzensberger hat in der FAZ vom 25. Januar die passenden Worte zu dieser Art von Diskurskultur gesagt, die allein dazu da ist, sich selbst in ihrem Scheinleben zu erhalten und von den wirklichen Problemen abzulenken: "Parteistrategen adressieren Parteistrategen und Leitartikler Leitartikler, ein Leerlauf, der alle anderen tendenziell ausschließt. (…) Die Diskursherrschaft, die sie auf diese Weise erreichen, ist eine Illusion, denn das einzige, was sie erzeugt, ist Überdruß."

Ein Beispiel dafür sieht Enzensberger in der aktuellen "Scheindebatte über das Jahr 1968", bei der "ein vor dreißig Jahren verendeter Hund durchs Dorf getrieben" und mit größtem Entrüstungsgebaren über Dinge diskutiert wird, die außer den Veranstaltern dieser Polit-Soap kaum jemanden mehr interessieren, "am allerwenigsten die Leute, die das Gequassel angezettelt haben – und nicht einmal die Millionen von Personen, die sich nachträglich zu Achtundsechzigern‚ stilisiert haben, solange sie in dem Wahn lebten, damit wäre ein Distinktionsgewinn zu erlangen." Enzensberger schließt seine Polemik mit den Worten: "Wer sich an solchen Manövern beteiligt, geht unter sein Niveau."

Nun hat sich der Dichter mit diesen Bemerkungen, so richtig sie sind, zweifellos selbst unter sein Niveau begeben und an einer solchen Scheindebatte teilgenommen; vielleicht deshalb, weil er sie doch nicht für völlig belanglos hält. Mögen die Debatten unserer Massenmedien nämlich noch so unsinnig sein – sie prägen das Denken und Handeln von Millionen Menschen und sind daher eine sehr ernsthafte Angelegenheit, die nicht mit dem elitären Gestus des Kulturschaffenden abgetan werden kann. Stil zeigt sich nicht bereits in der Verweigerung der Diskussion, sondern darin, daß man in dieser keinen Schaden nimmt – wenn man Stil hat.


 
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