© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/01 02. Februar 2001 |
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Konventionelle Religiosität Günter Rohrmoser verordnet christliche Arzneien gegen Friedrich Nietzsches "Gott-ist-tot"-Diagnosen Oliver Geldszus Die Nietzsche-Rezeption ist so alt wie Nietzsches Philosophie selbst. Daß es dabei von Anfang an immer wieder zu konträren Auffassungen und Deutungen kam, lag nicht zuletzt am Philosophen: an seiner permanenten Ambivalenz des Denkens, seiner Lust an penetranten Fragestellungen und hin- und herpendelnden Antworten. So gibt es kaum ein relevantes Thema, zu dem sich in Nietzsches Werk nicht auch einander widersprechende Lösungen finden ließen. Entsprechend wurde Friedrich Nietzsche bereits zu seinen Lebzeiten (18441900) von den verschiedensten Seiten vereinnahmt; als Anarchist, Aufklärer, Aristokrat, letztlich Vordenker des Faschismus und Nationalsozialismus je nach Betrachtungsweise entweder verehrt oder verteufelt. Auf ausdrückliche Distanz gingen zu ihm lediglich zwei Mächte: der Kommunismus und der Katholizismus. Im Vatikan steht der Freigeist noch immer auf dem Index, wenngleich die christlichen Versuche, den umstrittenen Philosophen für eigene Zwecke einzuspannen, inzwischen eine ganz ansehnliche Tradition begründet haben. Auch für derartige Überlegungen bildet Nietzsche selbst den Ausgangspunkt. Seine Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus, seine Erziehung in der berühmten Klosterzucht von Schulpforta und die im Werk immer wieder anklingenden religiösen Bezüge haben stets dazu gereizt, in dem selbsternannten Zertrümmerer der christlichen Moral nichts anderes als einen Kritiker innerhalb der Kirche zu sehen. Nietzsches Verhältnis zum Christentum war haßerfüllt und zog sich durch sein gesamtes Leben und Werk. Ohne religiösen Hintergrund wäre seine Philosophie andererseits nicht denkbar, war doch der Übermensch im Grunde nur konzipiert, um das Vakuum nach dem "Tode Gottes" auszufüllen. Den "Zarathustra" bezeichnete er stolz als sein "fünftes Evangelium", und die "Wahnsinnszettel" kurz vor dem Zusammenbruch 1889 pflegte er mit "Der Gekreuzigte" zu unterzeichnen. Aus eindeutig christlicher Position heraus hat sich der Hohenheimer Religionsphilosoph Günter Rohrmoser in seiner neuesten Publikation dem Phänomen Nietzsche genähert. Der Band "Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart" vereinigt verschiedene Vorlesungen und Vorträge, in denen Rohrmoser die Kernthese in Nietzsches Denken, "Gott ist tot", untersucht. Für ihn ist der Philosoph einzig als Kritiker der Moderne interessant; seine Zukunftsentwürfe Nihilismus, Übermensch, Umwertung aller Werte, Wille zur Macht lehnt Rohrmoser vom Standpunkt der christlichen Ethik aus dezidiert ab. Diese Perspektive ist zu berücksichtigen, wenn man Rohrmosers Ritt durch Nietzsches Werk folgt. Unfreiwillig veranschaulicht er somit des weiteren die verschiedenen Versuche, Nietzsche zu katalogisieren. Für ihn ist er der "Vollender der Aufklärung", der "bisher unübertroffene und unerreichte Analytiker der kulturellen, religiösen und moralischen Dekadenz" der europäischen Kultur. Indem er ihn als Diagnostiker begreift, wehrt er sich zugleich gegen romantische Überhöhungen als Revolutionär oder letztlich "Nachahmer Christi". Hier zieht Rohrmoser eine Grenze zwischen dem Kritiker und seinem Gegenstand, dem Christentum. Eine Trennlinie letztlich, die es Rohrmoser ermöglicht, sein konventionelles christliches Verständnis gegen Nietzsches Zukunftsvisionen zu behaupten. Ihm geht es um die Zukunft des Christentums, um die "vitale Überlebensfrage der modernen Kultur". Keine Kleinigkeit. Dazu macht er sich den streitbaren "Antichristen" und "Umwerter aller Werte" zunutze, ohne ihm in seine Abgründe zu folgen. Zwar sieht auch er Nietzsche im generellen Spannungsfeld nicht nur der Dekadenz, sondern auch der sich auflösenden christlichen Religion, doch eindeutig als Atheisten. In der Abkehr von Christus macht er die Ursache von Nietzsches Tragödie aus: "Er hat sich in einem Labyrinth verloren, als er mit der Intention angetreten ist, einen Standort jenseits von Wahrheit und Falschheit zu finden. Dabei ist er konsequenterweise verrückt geworden." Von den "Unzeitgemäßen Betrachtungen" bis hin zu den Notizen im Nachlaß durchleuchtet Rohrmoser die Analysen des Diagnostikers Nietzsche eine unter diesem Blickwinkel interessante und ergiebige Verdichtung des nietzscheanischen Denkens. Als christlicher Religionsphilosoph stellt sich Rohrmoser der Herausforderung Nietzsches. Dessen Kritik am Christentum, so argumentiert er, "ist so radikal, daß eigentlich nur der entgegengesetzte Ausweg bleibt: die Apologie des Christentums". Auch Rohrmoser verfolgt eine Intention, er nähert sich Nietzsche nicht wertneutral, sondern im Dienste einer Ideologie. Somit gilt auch für ihn, was er für Nietzsche reklamiert: Es ist zwischen Diagnose und Schlußfolgerung zu trennen. Oliver geldszus
Günter Rohrmoser: Nietzsche als Diagnostiker der Gegenwart.Olzog Verlag München 2000, 422 Seiten, 68 Mark |