© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/01 02. Februar 2001

 
Revolution auf leisen Sohlen
1968: Fischer, Trittin und die Strategie der Systemüberwindung
Michael Wiesberg

In der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit vom 20. Januar schreibt der ehemalige Kulturstaatsminister und jetzige Mitherausgeber und Chefredakteur Michael Naumann, daß die "öffentliche Verhandlung der Biographie des Außenministers die Bipolarität" der sechziger und siebziger Jahre "in die Gegenwart" transportiere. "Rechtsstaatlichkeit, Ruhe, Law and Order versus moralische Geschichts- und Zukunftsgewißheit". Nicht Fischers angeblicher "Opportunismus" beförderte Fischers Karriere, "sondern vielmehr die Wählbarkeit seiner moralischen Deutschland-Interpretation".

Fischer, Trittin und all die anderen "antifaschistisch sozialisierten Politiker" (Naumann) im Gefolge der ’68er-Kulturrevolution sollen für eine nicht näher definierte "moralische Geschichts- und Zukunftsgewißheit" stehen, die Naumann gegen Begriffe wie "Rechtsstaatlichkeit" oder "Law and Order" ausspielt. Mit letzterer Wendung knüpft er bewußt an eine Diffamierungsformel der ’68er an, die alle, die damals für die konsequente Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien eingetreten sind, zu Vertretern eines "Obrigkeitsstaates" stempelte, in dem "Ruhe" "die erste Bürgerpflicht" gewesen sein soll.

Die angebliche "Bipolarität" der Sechziger und Siebziger, von der Naumann spricht, ist heute überwunden. Das heißt, daß die "Strategie der Systemüberwindung", mit der die ’68er-Generation angetreten ist, ihr Ziel erreicht hat. Was mit dieser Strategie gemeint ist, hat der Soziologe Helmut Schelsky bereits am 10. Dezember 1971 in der FAZ beschrieben: Hinter dem Begriff der "Systemüberwindung" stehe die Absicht, "die grundlegenden politisch-sozialen Leitbilder und die darauf beruhenden Lebensformen der gesellschaftstragenden Gruppen der Bundesrepublik abzuschaffen, indem man ihnen ihre werthaften und ideologischen politisch-sozialen Grundlagen entzieht".

Dies konnte in einer komplexen Gesellschaft wie der bundesrepublikanischen nicht durch gewaltsamen Umsturz von innen oder außen geschehen, sondern nur mittels des vielzitierten "langen Marsches durch die Institutionen". Die Studenten von 1968 griffen bei diesem Marsch zu einer Strategie, die in bürgerlichen Kreisen bis heute nicht recht begriffen worden ist. Das zeigt die laufende Debatte um die Vergangenheit der heutigen Bundesminister Fischer und Trittin. Schelsky diagnostizierte, daß die "Vermittlung von Sinn" von den ’68ern als "entscheidendes Herrschafts- und Stabilisierungsmittel" von hochentwickelten Gesellschaften erkannt wurde. Dementsprechend wurde die "Eroberung der Sinn-Vermittlung zum entscheidenden Kampfziel der Revolution". "Sinn-Vermittlung" geschieht über Informationen, Normen, Ideale, Orientierungen, vermeintliche Forschungsergebnisse oder Nachrichten. Diejenigen, die als Beherrscher von Papier, Ton und Bild die Rolle des "Sinn-Vermittlers" einnehmen, werden damit zwangsläufig auch zur "herrschenden Klasse" in einer Gesellschaft. Wer will heute ernsthaft bestreiten, daß die ’68er ihr "Kampfziel", die Eroberung der "Sinn-Vermittlung", erreicht hätten?

Im Zusammenhang mit der "Vermittlung von Sinn" spielt die Moral natürlich eine zentrale Rolle. Die "Moral", die die ’68er meinen, fußt in erster Linie auf der exzessiven Betonung der individuellen Freiheits- und Grundrechte, die gegen ein als "Obrigkeitsstaat" diffamiertes Staatsgebilde angeblich erst durchgesetzt werden mußten. Der Staat geriet durch die Agitation der ’68er in den Ruch, ein das Individuum rücksichtslos beherrschendes Gebilde zu sein. Dank dieser systematischen Schwächung der Staatsgewalt durch Diffamierung der Staatsorgane, verniedlichend "Liberalisierung der Gesellschaft" genannt, stellt der heutige Staat bestenfalls noch eine Karikatur einstiger Staatsmacht dar.

Mit Recht hat Schelsky darauf verwiesen, daß die Anwendung von Gewalt dem Geist der "Strategie der Systemüberwindung" widerspreche und sogar deren Durchsetzung schwäche. Deshalb dürften sich Fischer und andere von den gewaltbereiten Derivaten der ’68er-Bewegung distanziert haben. Der offene Terror, wie ihn die RAF praktizierte, wurde als "antiquiert" erkannt. Fischer und Konsorten bevorzugten die wohldosierte Anwendung von Gewalt, um Gegenmaßnahmen zu provozieren. Harsche Reaktionen des "Obrigkeitsstaates" auf gewalttätige Übergriffe waren einkalkuliert und ermöglichten erst recht eine Denunziation des "Schweinesystems", das es zu überwinden galt.

Diese Sicht hat sich bis innerhalb der politischen Linken bis heute gehalten. So bemerkte Rezzo Schlauch, der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, in der Aktuellen Debatte im Parlament am 17. Januar zu Wolfgang Gerhardt (FDP), daß dieser so tue, "als ob wir schon damals (in den sechziger und siebziger Jahren, d.V.) ein liberales, ein weltoffenes, ein tolerantes Land gewesen seien. Das war mitnichten so." Und weiter: "Das Klima von Hetze und Haß, von politischem Muff und von Intellektuellenfeindlichkeit sieht man auf den Bildern von damals." Ganz im Geiste dieser Feststellung redet Fischer von einer "Freiheitsrevolte", an der er beteiligt gewesen sein will. Deshalb sei ihm das "Steinewerfen" auch nicht unangenehm, wie Fischer der Welt gegenüber zu Protokoll gab. Und deshalb wird man weder von Fischer noch von Trittin jemals ein klares Wort zum Gewaltmonopol des Staates hören.

Es gehört zur Konsequenz der von Fischer und Trittin verfolgten "Strategie der Systemüberwindung", daß beide die Stirn haben, sich auch noch zu Verfassungsexegeten bzw. -schützern zu stilisieren. So erklärte Fischer anläßlich des "Partner in History"-Dinner des World Jewish Congress am 11. September 2000 in New York: "Der Ursprung und das Selbstverständnis der gegenwärtigen deutschen Demokratie sind nur (!) vor dem Hintergrund des Holocaust zu verstehen."

Trittin sieht in seinem Buch "Gefahr aus der Mitte" (1993) das Grundgesetz in Gefahr. Das neue Deutschland gehe daran, "mit zentralen Grundwerten der alten Bundesrepublik zu brechen". Hinter dem "deutschen Vereinigungsnationalismus" stecke eine konservative Verschwörung, die für Rassismus und brennende Asylbewerberheime verantwortlich sei. Stefan Dietrich schlußfolgerte in der FAZ vom 24. Februar 1999, was Trittin, der inzwischen zweimal als Minister auf das Grundgesetz vereidigt wurde, nahelegt: das "Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt".

Die Frage, inwieweit Trittin oder Fischer eine Wandlung aus Überzeugung oder Opportunismus vollzogen haben, ist müßig. Nicht Fischer oder Trittin haben sich "gewandelt", sondern die Bundesrepublik hat sich in ihrem Sinne "verändert". Die "Strategie der Systemüberwindung", die Helmut Schelsky 1971 beschrieb, ist voll aufgegangen. Fischers "moralische Deutschland-Interpretation", von der Naumann raunte, ist für Deutschland in einem Maße prägend geworden, wie es sich die "Systemüberwinder" in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt haben dürften.


 
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