© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/01 26. Januar 2001

 
Durchsichtige Grenzen
Ausstellung: "Wunderkammern des Wissens" in Berlin
Rolf Helfert

Im Martin-Gropius-Bau in Berlin ist derzeit eine Ausstellung zu bestaunen, die größtes Interesse verdient. Zu hoffen bleibt, daß hohe Qualität auch optimale Resonanz hervorruft.

Die Humboldt-Universität hat ihre Schatztruhen geöffnet. Etwa 1.100 Objekte wissenschaftlicher Forschungen, die nahezu alle akademischen Gebiete repräsentieren, ebenso etliche Kunstgegenstände, ziehen den Besucher in ihren Bann. Die meisten Exponate, von denen die Öffentlichkeit normalerweise nur kleine Teile sehen kann, steuerte das Museum für Naturkunde bei. Andere Institutionen sekundierten: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Freie Universität, Hermann-von-Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, Berliner Festspiele.

"Theatrum naturae et artis" heißt die Schau des Wissens, die eine Idee von Gottfried Wilhelm Leibniz aufnimmt, der 1675 vorschlug, Objekte damaliger Gelehrsamkeit auszustellen. Ganz bewußt, betont Kultursenator Stölzl, soll die Vielfalt des Dargebotenen dazu beitragen, die Grenzen zwischen den Fachgebieten durchsichtig zu machen. Dieser Anspruch ist voll eingelöst worden.

Den Besucher erwarten in zwanzig Räumen mehr als hundert Sammlungen Berliner Forscher; vornehmlich entstanden sie während der letzten zwei Jahrhunderte. Die Palette enthält Saurierknochen, präparierte Tiere und Pflanzen, antike Grabungsfunde, medizinhistorische Utensilien und vieles andere.

Der zwei Meter große Oberarmknochen eines Brachiosaurus, entdeckt von Berliner Paläontologen 1909 in Südafrika, erregt die Phantasie. Seltsam wirkt das "Gerippe eines Meeresungeheurs", das aus Urwal-Knochen falsch zusammengesetzt wurde. 1721 erlegte der Soldatenkönig ein Wildschwein, dessen Haut hier betrachtet werden kann, genauso das vollständig erhaltene Skelett des "Leib-Reitpferdes" Friedrichs II.!

Unzählige Fische und Amphibien, konserviert mittels "Weingeist", ausgestopfte Vögel, botanische Raritäten entlegenster Erdteile: sie alle dokumentieren den Forscherdrang Berliner Wissenschaftler. Dicht daneben fasziniert die Rechenmaschine des Philosophen und Mathematikers Leibniz. So hat man sich also einen "Computer" der Zeit um 1700 vorzustellen!

Nicht zu kurz kommen die Kulturwissenschaften. Zu besichtigen sind Resultate archäologischer Arbeit in Vorderasien, Ägypten und Griechenland. Am bedeutsamsten erscheinen die Funde des Berliner Historikers und Archäologen Ernst Curtius. Er legte 1880 in Olympia einen Zeustempel frei. Riesige Skulpturen griechischer Götter, die den Tempel zierten, ließ Curtius nachbilden. Auch sie stehen jetzt im Gropius-Bau. Gut ist hier die Ähnlichkeit von historischer und paläontologischer Forschung zu erkennen. Vertreter beider Disziplinen arbeiten nicht nur mit Schaufel und Pinsel, sondern müssen oft ihren Schlußfolgerungen wenig Material zugrundelegen.

Curtius verstand übrigens das Bismarck-Reich als Deutschland des Friedens und der wissenschaftlichen Entdeckerfreude. Dies sei jenen ins Stammbuch geschrieben, die den ersten deutschen Nationalstaat für schlechthin "böse" halten!

Das musikwissenschaftliche Seminar der Humboldt-Universität zeigt die 1920 gegründete "Lautabteilung". Schallplatten mit den Stimmen berühmter Deutscher, beispielsweise Max Planck und Wilhelm II., werden abgespielt. Physikalische (akustische) Forschung mündete in die Entwicklung der Tontechnik.

Äußerst eng kooperieren auch biologische Zellforschung und Medizin. Große Teile der Ausstellung gehören zur anatomischen Präparate-Sammlung Rudolf Virchows. Kranke Organe, mißgebildete Schädel, Knochen und Skelette, im Original erhalten oder aus Wachs gefertigt, demonstrieren anschaulich, wie früher medizinische Forschung, die heute eher im Labor stattfindet, betrieben wurde.

Schiffsmodelle und nautische Instrumente entstammen Restbeständen des Museums für Meereskunde, das leider im Bombenkrieg unterging. Zu den besonderen Juwelen der Ausstellung gehören auch die Bibliothek der Brüder Grimm sowie Bilder von Menzel und Kollwitz.

Nach schlimmen Zeiten hat Berlin heute mehr denn je die Chance, früheren wissenschaftlichen Ruhm fortzusetzen. Der Lichthof des Gropiusbaus bietet eine Galerie der berühmtesten Berliner Wissenschaftler – von Max Planck über Theodor Mommsen und Hermann von Helmholtz bis zu Fichte, um nur ganz wenige zu nennen. Die "Wunderkammern des Wissens" verführen beinahe dazu, dort weiterzumachen, wo sie aufhörten.

Die Ausstellung "Theatrum naturae et artis – Wunderkammern des Wissens" ist noch bis zum 4. März im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, 10963 Berlin, zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Mark, die beiden Kataloge einzeln je 39,80 Mark, zusammen 68 Mark.


 
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