© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/01 26. Januar 2001

 
Der Geist, der aus der Kiste kam
Fotografie/Film: Leonardo da Vinci konstruierte vor 500 Jahren die erste Camera obscura
Günter Zehm

Als im Januar 1501, vor fünfhundert Jahren, Leonardo da Vinci zum ersten Mal eine Camera obscura zeichnete und beschrieb (und damit faktisch das fotografische und kinematografische Zeitalter eröffnete), war das, wie man heute sagen würde, ein vollkommener Flop, niemand regte sich darüber auf. Fünfzig Jahre vorher, bei Gutenbergs beweglichen Lettern, war das ganz anders gewesen. Gutenbergs Erfindung machte von Anfang an Furore, innerhalb kürzester Frist entstanden Hunderte von Druckereien, das "Gutenbergzeitalter" begann. Von einem "Leonardo-da-Vinci-Zeitalter" ist dagegen nichts bekannt.

Mechanisch erzeugte und bewegte Bilder wollte zunächst und für lange Zeit niemand haben. Im Gegensatz etwa zu Auto und Flugzeug, Telefon und Unterseeboot kamen bewegte Bilder in den diversen technischen Utopien nicht vor, sie gehören nicht zu den originären Menschheitsträumen, wurden von den großen Magiern der Schamanenzeit oder der Renaissance nicht ersehnt. Die Magier wollten fliegen, und sie wollten sich unsichtbar machen können, sie wollten ohne materielle Berührung Dinge verrücken und über große Entfernungen direkt miteinander kommunizieren. In bewegten Bildern aber sahen sie keinen Sinn.

Die Menschheit hatte also zur Leonardo-Zeit nicht die geringste Ahnung, was für Geister aus der Camera obscura einmal aufsteigen würden. Lediglich einige große Philosophen und Forscher, wie Newton, interessierten sich für diese merkwürdige Black Box, aber ihr Interesse war ausschließlich wissenschaftlich-physikalisch, nie und nimmer ästhetisch-theatralisch.

Aus der Camera obscura entwickelte Newton das sogenannte Stroboskop, in dem er das Licht "zerhackte", und dabei machte er auch schon die Erfahrung, daß unser Auge ein "träges" Organ ist, welches einen sinnlichen Eindruck länger festhält, als er in Wirklichkeit besteht. Eine rasche Folge von Lichtquanten und Dunkelheitsquanten nimmt unser Auge als einen kontinuierlichen grauen "Film" wahr – darüber dachte also, wie gesagt, bereits Isaac Newton nach. Folgen zog er aber nicht.

Die mit der Camera obscura zum ersten Mal wirklich ernst machten, kennt man gar nicht. Irgendwann in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war plötzlich das "Lebensrad" da, das sich die Newtonschen Erfahrungen mit dem Stroboskop zunutze machte, um damit die Leute auf den Boulevards und auf den Jahrmärkten zu unterhalten und zu belustigen. Und das war der eigentliche Beginn des "Leonardo-da-Vinci-Zeitalters".

Da malte einer auf die Innenseite einer über das Niveau der Radnabe erhobenen Felge viele Bewegungsbilder etwa eines laufenden Menschen oder Pferdes, machte ein Loch in die Felge und ließ nun die Leute gegen Eintrittsgeld hindurchsehen, während er das Rad in Bewegung setzte. Die Leute sahen, infolge der Trägheit des Auges, tatsächlich einen laufenden Menschen oder ein laufendes Pferd – die Bilder "lernten laufen". Aber kein Gebildeter fand das irgendwie aufregend oder gar zukunftsreich.

Der nächste Schritt war, daß das "Lebensrad" eine Ehe mit der ebenfalls damals, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, erfundenen Fotografie einging, der Methode, durch bloße Belichtung gewisser, auf Platten oder Papieren aufgetragener Substanzen (also auf rein optisch-chemischem Wege, ohne jeglichen Einsatz geistbeflügelter mimetischer Gestik), ein exaktes, dauerhaftes Abbild von Ausschnitten sinnlicher Wahrnehmung zu erzeugen. So konnte der "Film" auf Zelluloid gebannt, mit Handlung ausgestattet und in den Handel gebracht werden.

Nun wachten die Gebildeten allmählich auf – und gingen zunächst in Abwehrhaltung. Denn eine völlig neue Welt der sinnlichen Wahrnehmung entstand plötzlich, eine "zweite" Welt, eine "verdoppelte" Welt, eine "virtuelle" Welt, die sich zudem der Kontrolle der sich zuständig fühlenden Geister zunehmend entzog.

Bisher hatte es des inneren Sinns bedurft, um die Welt zu verdoppeln, des Vorstellungsvermögens, der Phantasie, des Traums. Es war dies das Geschäft der Philosophen und Psychologen, nicht zuletzt der Theologen gewesen. Jetzt schien das alles buchstäblich überflüssig zu werden. Irgendwelche Techniker, Mechaniker, Industrielle überholten plötzlich unsere Innerlichkeit, unsere Phantasie, unsere Vorstellungskraft, unsere Träume. Das ließ sich zunächst nur durch entschiedenes Wegsehen verkraften.

In der Tat sahen die Gebildeten lange Zeit entschieden über die neue Entwicklung hinweg. Man überließ den frühen Film ganz dem reflexionslosen Jahrmarkt, so wie man schon das Lebensrad dem Jahrmarkt überlassen hatte. Erst in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als das Kino längst zu einer mächtigen ästhetischen und sozialen Kraft geworden war, begann man schüchtern darüber nachzudenken, noch gänzlich außerhalb der Lehrstühle, in den Feuilletonredaktionen der Zeitungen (und in den politischen Parteibüros), bei Walter Benjamin und Bertolt Brecht, bei Siegfried Kracauer und Béla Balázs.

Heute hat sich das bekanntlich total umgekehrt. Es wimmelt von gut dotierten Lehrstühlen für "Medienwissenschaft", für technische Verdoppelung und Virtualität, während die Beobachter und Kommentatoren der "ersten" Welt um ihre Pfründe besorgt sein müssen und sich immer ungenierter nach der Decke der Medialität zu strecken beginnen.

Dagegen läßt sich schwerlich angehen, und es wäre auch nicht sinnvoll. Technisch hergestellte Bilder beherrschen die Welt, und es kann nur noch darum gehen, sie dauerhaft und überzeugend in der Wirklichkeit der ersten Welt zu verankern. Gelegentlich sollte man sich daran erinnern, wie alles angefangen hat: mit einer schwarzen Kiste bei Leonardo, in die wenig Licht hineinkam und in der die Bilder auf dem Kopf standen.


 
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