© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
Rechte Leute von links
Die SPD und die Nation: Wieder einmal Streit um die vaterlandslosen Gesellen
Richard Göttmann

Wo bekäme man den Bildungsnotstand des Landes drastischer vor Augen geführt als im Bundestag? Zeigte doch neulich erst wieder ein Schlagabtausch zwischen Kanzler Schröder und CDU-Fraktionschef Merz über das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Nation, daß unter unseren Volksvertretern vor allem Geschichtskenntnis eher Glückssache ist. So stiftete Schröder eine bislang ganz unbekannte Tradition, als er seine altvorderen Genossen in Bausch und Bogen in den Rang von Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus erhob, die "Konservativen" hingegen allesamt als Steigbügelhalter und Bündnispartner der "Nazis" verächtlich machte. Der hilflose Friedrich Merz wußte darauf nur zu kontern, daß die CDU von dieser Diffamierung nicht getroffen werde – schließlich sei man keine "konservative Partei".Unfreiwillig scheinen solche Argumentationen zunächst nur den wechselseitigen Vorwurf der Kontrahenten zu bestätigen, sich vom intellektuellen Zuschnitt her eher für die Arbeit in einer Anwaltskanzlei in Lüdenscheid oder Peine zu empfehlen.

Wie dem auch sei: Vom hinreichend ausgelasteten Finanzexperten und Blockflötenspieler Merz jedenfalls kann man kaum erwarten, sich mit christdemokratischen Traditionen zu befassen. Insofern darf er sich coram publico getrost von konservativen Gründervätern und -müttern seiner C-Partei und allen ihnen nachfolgenden "Stahlhelmern" verabschieden, die sich für die windschnittige Identitätsstiftung heutzutage eh nicht eignen. Schröder hingegen hätte man mehr zugetraut. Höheres Alter läßt ja stets auf ein Minimum an Geschichtsbewußtsein schließen, und was die Einschätzung seines intellektuellen Formats angeht, haben wir immer noch Horst Mahlers Lobgesänge auf den "Hegelianer" aus Hannover im Ohr, die manchen im Herbst 1998 hoffen ließ, der Weltgeist werde nun im VW-Passat vorfahren.

Wie inzwischen für jedermann sichtbar, hat es dafür nicht ganz gereicht. Aber um sich gegen den im Gefolge der Einheitsfeierlichkeiten erhobenen Kohl/Merkel-Vorwurf zu verteidigen, die SPD habe ein gebrochenes Verhältnis zur Nation, hätte es für Schröder eigentlich genügen müssen, auf die Adenauer-CDU zu verweisen, die schon die Teilung in Kauf nahm und die "Gruppeninteressen des westdeutschen Bürgertums zusammen mit denen des Bürgertums Westeuropas und der USA über die nationalen Interessen stellte" (so der SPD-Politologe Theo Pirker), oder auf Kohl und seine Entourage, die bis 1989 die Zweistaatlichkeit voll und ganz verinnerlicht hatten. Der Versuch hingegen, mit inhaftierten Hitler-Gegnern das "bessere Deutschland" für sich zu reklamieren und so Sozialdemokratie und Nation in ein positives Verhältnis zu setzen, mußte scheitern.

Denn beim altgedienten Parteiintellektuellen Tilmann Fichter ("Die SPD und die Nation", Berlin 1993) hätte Schröder nachlesen können, daß "der Kreis der sozialdemokratischen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime im Vergleich zum Gros der resignierten SPD-Parteifunktionäre, die das Dritte Reich in der inneren Emigration überlebt hatten, relativ klein gewesen ist". Ungleich signifikanter als der Widerstand sei das "Arrangement vieler SPD-Mitglieder mit dem NS-Regime" gewesen, das letztlich "das reibungslose jahrelange Funktionieren der nationalsozialistischen Diktatur" erst ermöglicht habe.

Dieter Groh und Peter Brandt ("Vaterlandslose Gesellen. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990", München 1992), der Sohn seines einstigen Parteivorsitzenden, hätten Schröder zudem gern über das positive Bedeutungsspektrum des sozialdemokratischen Vaterlandsbegriffs informiert. Und wie es der Zufall so will, erschien fast zeitgleich mit des Kanzlers verunglückter Geschichtslektion eine Untersuchung über eine Parteiformation, die man fast als sozialdemokratische Variante der "Konservativen Revolution" bezeichnen möchte.

Stefan Vogt beschäftigt sich im November-Heft der zu DDR-Zeiten marxistisch-leninistischen, nun vom linksliberalen Umfeld der Professoren Wolfgang Benz und Peter Steinbach fortgeführten Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (38. Jahrgang) mit den "sozialdemokratischen Jungen Rechten", die sich, aus dem Hofgeismarer Kreis kommend, seit 1930 in den "Neuen Blättern für den Sozialismus" artikulierten. Stärkste Affinitäten zu jungkonservativem Gedankengut wies unter ihnen der Staatsrechtler Hermann Heller auf, dessen Abhandlung "Sozialismus und Nation" (1925) "Blut und Boden" als die natürlichen Grundlagen der als "Schicksals-, Charakter- und Kulturgemeinschaft" gefaßten Nation definierte. Vogt weist darauf hin, daß Heller sich damit in vieler Hinsicht originär sozialdemokratische Adaptionen der Nation produktiv aneignete. Rezipierte er doch die Nationalitätentheorie des Austromarxisten Otto Bauer, der wiederum die Überlegungen des revisionistischen Parteitheoretikers Eduard Bernstein verarbeitete. Bernstein hatte frühzeitig die Bedeutung nichtökonomischer Faktoren in der Politik erkannt. Die Erfahrung des "Kriegssozialismus" und der "Frontkameradschaft" hatte zudem Zweifel daran geweckt, daß nur eine materiell bedingte Klassenlage soziale Interessen und Solidaritäten stifte. Von da aus war es nur noch ein Schritt zur Vorstellung, die SPD dürfe sich nicht darauf beschränken, die Interessen des Proletariats zu verfechten, sondern müsse das Volk als Ganzes gegen das Kapital mobilisieren. Entsprechend mußte ein "starker Staat" das Volk "einen". Sehr weit waren Heller und seine Mitstreiter wie Paul Tillich und Eduard Heimann damit nicht mehr von jungkonservativ-autoritären "Rekonstruktionen" der Weimarer Verfassung entfernt. Vogt kann sogar verdeutlichen, daß man im Kreis der "Jungen Rechten" bereit war, den Antikapitalismus der NSDAP als authentisch zu akzeptieren und daraus abzuleiten, in Hitlers Partei einen "potentiellen Bündnispartner" für den Sozialismus gefunden zu haben.

Daß Vogt diese in der Weimarer Sozialdemokratie sehr isolierte, von einer elitären Minderheit geknüpfte Verbindung von Sozialismus und Nation als Irrweg begreift, versteht sich von selbst. Deshalb muß er auch jene, womöglich den Keim für eine positive Bewertung enthaltenden neueren Interpretationen scharf zurückzuweisen, denen zufolge in der Bereitschaft dieser innerparteilich leider machtlosen SPD-Rechten, sich auf "autoritäre Notstandmodelle" der Jungkonservativen um Kurt von Schleicher einzulassen, eine reale Chance lag, die NS-Machtübernahme zu verhindern.

Daß unter den Widerstandskämpfern, auf die der Bundeskanzler sich heute beruft, mit Theodor Haubach, Julius Leber und Carlo Mierendorff nun wiederum gerade "Junge Rechte" zu finden sind, müßte als besondere List der Vernunft den um geschichtspolitisch praktikable, mithin "eindeutige" Traditionen bemühten Schröder jedoch selbst dann in Verwirrung stürzen, wenn er Hegelianer wäre.


 
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