© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/01 19. Januar 2001

 
"Preußen ist nicht gleich Hitler"
Stanislaw Salmonowicz zum 300jährigen Jubiläum über Preußen aus polnischer Sicht
Moritz Schwarz

Herr Professor Salmonowicz, große Teile Preußens wurden von Polen nach dem Zweiten Weltkrieg annektiert. Das KönigreichPreußen hat in diesen Tagen sein 300jähriges Jubiläum, ist das ein Thema in Polen?

Salmonowicz: Dieses Jubiläum ist vom deutschen Standpunkt – Preußen als Macht – natürlich sehr wichtig. Für uns Polen ist es dagegen freilich ein Problem, daß Preußen vom Moment des Aufstiegs an damit begann, ein Übergewicht über Polen zu gewinnen, das in die drei polnischen Teilungen mündete. Die Geschichte Preußens und Polens ist sehr kompliziert. Deshalb habe ich auch mein Buch auf deutsch veröffentlicht, um einen polnischen Beitrag zur Diskussion zu lieferen. Es ist das erste Mal, daß ein Pole die ganze Geschichte Preußens darstellt: Vom Beginn bis zum bitteren Ende. Es ist interessant, diese verschiedenen Darstellungen einander gegenüberzustellen.

Zu welchem Ergebnis kommen Sie in Ihrem Buch?

Salmonowicz: Ich habe nicht einen subjektiven Standpunkt gewählt, sondern Preußen im Rahmen der europäischen Geschichte betrachtet. Preußen hatte verschiedene interessante Züge: etwa diesen ausgesprochen staatlichen Charakter. Es brachte also von innen betrachtet verschiedene positive Errungenschaften hervor. Auf der anderen Seite ist es aber die Rolle Preußens als Hegemon – verhängnisvoll auch für Deutschland –, die den Weg in den Ersten und Zweiten Weltkrieg bahnte.

Ihr Buch enthält auch ein Kapitel über "preußische Mentalität" – was verstehen Sie darunter?

Salmonowicz: Das sind die preußischen Tugenden, die den spezifischen preußischen Bürger formen. Diese Tugenden sind sehr gut, wenn Sie sie einfach und selbständig betrachten. Sie wirken aber "untertanisch" – wenn ich das einmal so nennen darf – im Verbund mit einer hegemonialen Bestrebung und verkehren sich dadurch in etwas Negatives: Loyalität zum Beispiel wird zu Untertanenschaft. Man muß also beachten, wozu diese Tugenden eingeführt worden sind und wie sie sich schließlich ausgewirkt haben.

Die Deutschen sehen Preußen traditionell von Westen her, offenbart der polnische Blickwinkel nicht ein ganz anderes, ein osteuropäisches Preußen?

Salmonowicz: Das wird in der historischen Erinnerung in der Tat zu oft vergessen. Die preußischen Ostprovinzen standen zuvor lange Zeit auch unter polnischer Oberhoheit. Man muß sich klarmachen – auch wenn der Name des Staates von Ostpreußen herrührt, so war der preußische Staat doch vor allem ein brandenburgischer Staat. Das "eigentliche" Preußen – also Ostpreußen – war ein ständischer Staat, kein absolutistischer. Das absolutistische Brandenburg aber war es dann allerdings, das dem gesamtpreußischen Staat seine innere Form gab. Aber noch bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es große polnische Einflüsse im Königsberger Gebiet. Erst der brandenburgische Absolutismus beendete dann diesen Einfluß.

Welche Beziehung hat der "normale Pole" zu Preußen?

Salmonowicz: Ehrlich gesagt, diese alte preußische Geschichte ist für die junge Generation sehr weit weg. Und im Vordergrund steht eben in bezug auf Deutschland immer noch die Hitlerzeit. Es gibt dieses verhängnisvolle In-Dienst-Stellen der Preußen-Mythologie durch Hitler. Aber sehen Sie sich nur viele der alten preußischen Offiziere an, sie waren gegen Hitler. Ich habe also in meinen Büchern – von denen einige in Polen sehr hohe Verkaufszahlen erreichten – auch versucht, darzustellen, daß Preußen nicht gleich Hitler ist.

Erinnert man sich in Polen an die preußische Geschichte Westpolens?

Salmonowicz: Ja, etwa bei uns in Thorn wird viel zur Geschichte des Deutschen Ordens gearbeitet. Thorn ist zum Beispiel außerhalb Deutschlands das größte Zentrum für diese Forschung. Wir bemühen uns dabei, die Geschichte nicht im Rahmen des nationalistischen Standpunktes, sondern vor dem europäischen Gesamtzusammenhang, in dem sie damals stattfand, zu betrachten.

Also nehmen die Polen das preußische Erbe an?

Salmonowicz: In einigen der ehemals preußischen Provinzen versucht man nun sich der alten lokalen Heimat zu erinnern. Vor allem im ehemaligen Ostpreußen, wo es etwa einen polnischen Verein namens "Borussia" gibt, der nach der spezifischen Erinnerung dieser Landschaft sucht.

Unterscheiden die Polen zwischen Preußen und Deutschland?

Salmonowicz: Ja, denn lange Zeit waren nur die Preußen die Gegner Polens, nicht die ganze deutsche Nation. Dies kam eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verhängnisvoll war vor allem Bismarck, der dann eine Identifikation des Deutschen Reiches mit Preußen bewirkte und dessen Kulturkampf sich für die Polen als große Germanisierung herausstellte. Dies widerum führte zu einem starken und antideutschen polnischen Nationalismus. Aber all das setzte erst verhältnismäßig spät ein.

Preußen war unter Friedrich dem Großen ein Vernunftsstaat, in dem die polnischen Untertanen gleichberechtigt leben konnten. Gibt es nicht auch eine positive Erinnerung an Preußen und an den gemeinsamen König?

Salmonowicz: Es gab natürlich auch eine preußische Tradition des Rechtsstaats, sicher. Aber unter Bismarck und im Wilhelminismus waren es eben leider Ausnahmen, wenn polnischen Klagen vor den Gerichten in Leipzig oder Berlin stattgegeben wurden. Die Lebensrealität der Polen in Preußen wurde bestimmt vom Polizist oder dem kleine Beamte vor Ort, der das Recht "machte" – Sie wissen ja, so ist das immer ... Und man vergißt, daß etwa polnische Schulen oder überhaupt nur polnischer Sprachunterricht in dieser Ära verboten waren.

Welche Sicht haben die Polen heute auf Friedrich der Großen?

Salmonowicz: Einerseits ist er natürlich der erste aufgeklärte Absolutist und eine sehr interessante Persönlichkeit, andererseits ist er der große Eroberer. Und er machte eine oftmals harte Politik gegenüber Polen, denn er betrachtete Österreich, Sachsen und Polen als drei Feinde die man niederwerfen müsse, um Preußen im europäischen Mächtegefüge etablieren zu können.

Sollten die Polen das preußische Erbe gemeinsam mit den Deutschen pflegen?

Salmonowicz: Mein Eindruck ist, daß die Menschen in Polen die Deutschen oftmals unbefangener betrachten als die Deutschen –vor allem die Deutschen aus der ehemaligen DDR – die Polen. Das verstehe ich nicht ganz. Professoren etwa wie Ernst Nolte und seine Leute erinnern immer an die deutschen Opfer, aber sie machen keinen Vergleich mit den Erinnerungen der anderen Seite. Das ist ein Problem der Statistik, Differenzen wie hundert Getötete hier und zehntausend dort machen einen Unterschied. Freilich einen statistischen, keinen moralischen. Aber Statistik hat eben auch ein gewisses Gewicht in der Moralität.

Auf der anderen Seite steht die Zerstörung Preußens, auch durch Polen.

Salmonowicz: Im Zweiten Weltkrieg kämpften Polen zwar an allen Fronten, aber es war Stalin, der den Sieg diktierte. Nehmen Sie zum Beispiel das sogenannte Kalinningrad-Gebiet. Das ist ein geographischer wie historischer Unsinn. Aber Roosevelt und Stalinhaben das so abgemacht. Wir Polen hatten dabei nichts zu sagen. Es war eine Entlohnung für unsere verlorenen Gebiete im Osten. Die Vertreibung der Deutschen war tragisch für diese Menschen, aber unseren Leuten ging es im Osten meist nicht viel besser.

Sollten die Deutschen stolz auf Preußen sein?

Salmonowicz: Preußen ist eine historische Struktur, die über viele Jahrhunderte existiert hat. Über solche Strukturen kann man Gutes und Böses sagen, aber nie nur Gutes oder nur Böses. Vieles war wertvoll, und man kann schon stolz sein, aber da sind eben auch Militarismus und Untertanengeist, die als Belastung für das 20. Jahrhundert geblieben sind. Darum ist eine Antwort schwer. Ich beschränke mich deshalb darauf, statt dessen das "Sowohl-als-auch" zu benennen.

Bedauern Sie persönlich, daß es Preußen nicht mehr gibt?

Salmonowicz: Die preußischen Mentalitätszüge – die allerdings eher typisch protestantische als typisch preußische sind – sind freilich beeindruckend, ich sagte es bereits: etwa der Fleiß oder das Verantwortungsbewußtsein. Preußen war ein Land der kulturellen Siege: Philosophie, Musik, Literatur, später Wissenschaft, denken Sie nur an die deutschen Universitäten. Nur leider durften schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts die Polen an diesen Universitäten nicht studieren. Man war als Pole in Bayern eher willkommen als in Preußen. Und man kann anhand Preußens das europäische Schicksal so vortrefflich überdenken oder sehr gut die Probleme von Nachbarschaft studieren. Für mich ist die Geschichte Preußens ein phantastisches Thema.

War der Beschluß der Alliierten zur Auflösung Preußens nicht ungerecht?

Salmonowicz: Das Verschwinden Preußens ist eine Konsequenz des Zweiten Weltkrieges. Engländer, Franzosen, Russen und Amerikaner wollten glauben, daß der preußische Militarismus mehr noch als Hitler am zweiten Weltkrieg schuld sei. Das war nicht ganz richtig.

 

Der Staat Preußen ist durch die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges per Gesetz des alliierten Kontrollrates Nr. 46 vom 25. Februar 1947 endgültig aufgelöst worden. Dort heißt es: "Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern, erläßt der Kontrollrat das folgende Gesetz:

Artikel 1

Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst."

 

 

Prof. Dr. Stanislaw Salmonowicz gilt als der bedeutendste polnische Spezialist für preußische Geschichte. Er wurde 1931 im damals polnischen Wilna geboren. 1944 wurde er Zeuge des Warschauer Aufstandes. Heute hat der Professor für Rechtsgeschichte einen Lehrstuhl für deutsches Recht in Polen an der Kopernikus-Universität von Thorn (Torun) inne.

Außerdem ist er Leiter der Abteilung für die Geschichte Ost- und Westpreußens, Pommerns und des Baltikums an der polnischen Akademie der Wissenschaften. Salmonowicz schreibt für Zeitschriften in Polen, Deutschland und Frankreich und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Er ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften. Sein Preußen-Buch erschien auch auf deutsch: "Preußen. Geschichte von Staat und Gesellschaft." (Verlag Martin Opitz Bibliothek, 1995)

 

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