© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
Sprengstoff Sprache
François Emmanuel: "Der Wert des Menschen"
Holger Rossow

Dieses fesselnde Buch von knapp hundert Seiten trifft mitten hinein ins Nervenzentrum aktueller gesellschaftspolitischer Diskussionen, die sich an erweiterten Ladenschlußzeiten, Gentests für Versicherungskunden oder der Flexibilität im Arbeitsprozeß entzünden. Alle laufen auf die nur selten vertiefte Frage hinaus, ob der Mensch in der globalisierten Wirtschaft einen ethischen Mehr- und Selbstwert behauptet oder zum Kalkulationsposten im Kapital- und Warenkreislauf schrumpft. Der belgische Psychiater und Psychoanalytiker François Emmanuel, Jahrgang 1952, geht dieses Thema in seinem Roman "Der Wert des Menschen" frontal an und besetzt eine Leerstelle im öffentlichen Diskurs.

Der Ich-Erzähler arbeitet als Betriebspsychologe in der französischen Filiale des deutschen Konzerns SC Farb. Er veranstaltet Motivationskurse, um bei den Mitarbeitern "jene natürliche Aggressivität zu wecken, die sie engagierter, effizienter und damit letzten Endes produktiver macht". Kürzlich hat er die Evaluierungskriterien für ein Sanierungskonzept erarbeitet, das "die Schließung eines Werks und Personalreduzierungen von zweitausendfünfhundert auf tausendsechshundert Einheiten beinhaltete". Wegen seiner "dynamischen Art" geschätzt, wird er beauftragt, den Direktor seines Zweigwerks, Mathias Just, zu beobachten. Just gilt als autoritäres "Arbeitstier". In der letzten Zeit aber mehren sich bei ihm Schwächesymptome, die seine Funktionstüchtigkeit in Frage stellen.

Je mehr der Erzähler sich mit ihm beschäftigt, desto stärker fühlt er sich in dessen Problematik hineingezogen, und desto fragwürdiger werden ihm die Firma und seine Arbeit. Das erste überraschende Indiz, auf das er stößt, sind Justs intensive musikalische Neigungen. Er hat sogar einem Streichquartett angehört, das allerdings an den unterschiedlichen Positionen seiner Mitglieder innerhalb der Konzernhierarchie zerbrochen ist. Just, stellt sich heraus, wurde durch seinen autoritären Vater, der von der NS-Zeit geprägt worden war, ein enormer Leistungswille und die Fähigkeit zum klaglosen Funktionieren antrainiert. Unter seinem harten Panzer aber ist er ein "untröstliches Kind" geblieben, das Zwiesprache mit der Musik hält. Im innerbetrieblichen Konkurrenzkampf bedeutet diese verschämte Liebe zur Kunst das Fenster seiner Verwundbarkeit.

Justs Unsicherheiten und sein schließlicher Zusammenbruch werden von anonymen Briefen ausgelöst. Der erste enthält die Fotokopie einer streng technischen Beschreibung von Vergasungswagen, in der von der "Beschickung" mit "Ladegut" und "Stückzahlen" die Rede ist, und im letzten wird das Vokabular des "Dritten Reiches" mit dem aktuellen Manager-Jargon derart verschränkt, daß nicht mehr genau erkennbar ist, welche Elemente welchem Bereich entstammen: "jedes arbeitsunfähige element wird daher ausschließlich nach maßgabe der objektiven kriterien behandelt (...) verschiedene a priori oder a posteriori angewandte Klassifizierungsverfahren haben es möglich gemacht, homogene Gruppen von Individuen auszusondern ..."

Just ist nicht blind genug, um die Inhumanität seiner eigenen "technologischen Sprache" und ihrer "Soziologie des Befehlens" zu verkennen. Ihm wird, um mit dem jungen Georg Lukácz zu sprechen, "die tiefliegende Irrationalität, die hinter den rationalistischen Teilsystemen der (...) Gesellschaft lauert", bewußt. Ab dem Moment, wo er kritisch über den zweckrationalen Irrsinn seiner Tätigkeit reflektiert, wird er unfähig, sie weiter auszufüllen und den Widersachern Paroli zu bieten. Unter ihnen ragt sein intriganter Stellvertreter Karl Rose hervor, dem der ökonomische Zweckrationalismus mit der Evidenz eines unhinterfragbaren Naturgesetzes in das Bewußtsein eingesenkt ist und der wie eine monströse Karikatur von Marcuses "eindimensionalem Menschen" die Bühne betritt.

Der Firmenname "SC Farb" erinnert natürlich an die berüchtigte IG Farben. Doch der Autor bleibt bei der Verknüpfung von Kapitalismus und der kannibalischen "New Economy" mit dem NS-Paradigma nicht stehen. Der Erzähler äußert sogar, daß er "alle diese Geschichten von Vernichtung und Holocaust satt hätte". In einer verblüffenden Passage erwähnt er den Beinahe-Gleichklang der Namen "Karl Rose" und "Karl Kraus" in der französischen Aussprache. Wenige Seiten weiter, in einer "schrecklichen Parabel", die "von einem Diebstahl durch Mimesis" erzählt, erschließt sich der Sinn dieser Anspielung: Karl Kraus, der große Rhetoriker und humanistische Gesellschaftskritiker aus Wien, habe eines Tages beim Anhören einer Hitlerrede im Radio festgestellt, daß Hitler "sich derselben rhetorischen Techniken der Verführung, Hypnotisierung und Bezauberung bediente", wie er selber. Kraus’ Aphorismus: "Ein Original, dessen Nachahmer besser sind, ist keines", scheint die Kapitulation vor einem universalen und deshalb unentrinnbaren Nihilismus zu besiegeln.

Erst auf der letzten Seite wird der Name des Ich-Erzählers verraten: Er heißt Simon, wie der Zauberer aus den biblischen Apostelgeschichten, Erzvater der Häresie und Namensgeber der "Simonie", die den Austausch geistlichen Gutes gegen Vermögenswerte bezeichnet. Der Erzähler kehrt diesen Austausch um und wandelt sich zum Häretiker der Leistungsgesellschaft. Er wird gekündigt und findet allmählich seinen Frieden darin, "an den Rändern der Welt zu existieren".In diesem Buch stimmt alles. François Emmanuels Prosa macht nicht viele Worte. Aber jeder Satz, jedes Wort ist Dynamit!

 

François Emmanuel: Der Wert des Menschen. Roman. Aus dem Franz. v. Leopold Federmaier, Verlag Antje Kunstmann, München 2000, 99 Seiten, 29,80 Mark


 
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