© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
Pankraz,
H.-O. Henkel und die Welt unter vier Augen

Neues, erhellendes Schlagwort, diesmal aus sehr zuständigem Mund. In Deutschland habe sich, meint der ehemalige Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie Hans-Olaf Henkel, eine "Vier-Augen-Gesellschaft", eine "Zwei-Zungen-Semantik" herausgebildet. Was man als guter Freund zu gutem Freund, also unter vier Augen, sage, kontrastiere schneidend mit dem, was man in der Öffentlichkeit herauslasse, in der Schule, im Betrieb, im Fernsehen. Da sei ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Auch hier mithin, wie schon in so vielen anderen Bereichen, "DDR light" als gesamtdeutscher Neu-Zustand? In der verflossenen DDR übten sich bekanntlich schon die Kinder in dieser von Henkel beklagten Zwei-Zungen-Semantik. Ihre Eltern brauchten ihnen gar keine Extra-Anweisungen zu geben, sie bekamen im Verlauf ihrer primären Sozialisation ganz von allein mit, daß draußen auf der Straße anders gesprochen werden mußte als innerhalb der eigenen vier Wände, daß viele Wörter und Redeweisen draußen einen ganz anderen Sinn und ganz andere Folgen hatten als drinnen.

Bewundernswert, mit welch nachtwandlerischer Sicherheit damals die Kleinen faktisch von Beginn an die feinsten sprachlichen Nuancen zu respektieren verstanden. Nur ganz selten rutschten sie von der einen in die andere Sprachebene, gaben sich weder vor der Lehrerin noch vorm FDJ-Gruppenleiter Blößen und lernten zusätzlich noch das subtile Spiel mit unangreifbaren Andeutungen und doppelten sprachlichen Böden.

In der Schule der Diktatoren heißt das Phänomen "Double Speak". Der Double Speak ist mehr als bloßer Fachjargon, er macht sich nur am Rande durch Spezialvokabular bemerkbar, seine beiden Ebenen unterscheiden sich vielmehr durch unterschiedliche Gewichtungen, die man ein und demselben Wort verleiht. Es geht nicht so sehr darum, irgendwo exklusiv dazuzugehören und das durch Spezialsprache deutlich zu machen, sondern es geht darum, im Außenverkehr jede Abweichung von zeitgeistig zugelassener Rede zu vermeiden und jeden Verdacht von Dissidenz vorab zu zerstreuen.

So etwas erfordert Triebverzicht und Disziplin, was dann im sprachlichen Binnenverkehr, "unter vier Augen" (Henkel), durch besonders grell herausgestellte Abweichung und Dissidenz kompensiert wird. Je mehr Sprachre-gelung und Sanktionsdrohung draußen, um so offener und hemmungsloser das Reden unter vier Augen. Am Ende klaffen Außenrede und Binnenrede wirklich tief auseinander, so daß man den Manager Henkel schon verstehen kann, wenn er sich angesichts der Abgründe, die sich da auftun, entsetzt und darin eine erstrangige soziale Gefahr erblickt.

Was aber droht tatsächlich, wenn der Double Speak zum Chefrequisit im gesellschaftlichen Umgang wird? Psychoanalytiker der klassischen Schule betonen ja eher die systemstabilisierenden Wirkungen solcher Entwicklung. Im enthemmten sprachlichen Vier-Augen-Verkehr wird ihrer Meinung nach in erster Linie Aggression abgebaut, und das sei für den gesellschaftlichen Gesamtverkehr un-gemein nützlich.

Für den unzufriedenen Manager sei das offene Vier-Augen-Gespräch wie eine geistige Sauna, sie baue auf und mache fit für die semantischen Mühen und Ränke des tagtäglichen Lebenskampfs. Jeder Manager müsse derlei Vier-Augen-Gespräche suchen, wenn er erfolgreich bleiben wolle. Psychologisch betrachtet könne die Kluft zwischen Außenrhetorik und Vier-Augen-Gespräch gar nicht tief genug sein.

Pankraz hält solche Argumente allerdings für allzu formal und ziemlich wirklichkeitsfremd. Jeder Blick auf frühere Diktaturen kann einen darüber belehren, daß überhand nehmender, immer weiter sich vertiefender Double Speak stets die erste Stufe zum Untergang der jeweiligen Diktatur war. Zwei Sprachen in einer gibt es nun mal nicht, zumal wenn sich beide eines identischen Wortmaterials bedienen und es beim Sprechen nur darum geht, den Sätzen jeweils verschiedene Bedeutungen zu verleihen, sie auf ihre gesellschaftlichen Folgen abschätzend. Dann kommt es früher oder später zu Überschneidungen und Rangeleien.

Die Vier-Augen-Ebene ist zunächst zwar die schwächere, ihre Semantik wird vom herrschenden Zeitgeist diskriminiert und streckenweise behördlich verfolgt, es ist eine Untergrundsprache, "Stammtisch", bloßes Herumräsonieren. Doch sie ist gleichzeitig die Ebene der Wahrheit, sie bezeichnet nicht nur das, was sein soll oder sein darf, sondern vor allem das, was wirklich ist. Und das verschafft ihr langfristig Vorteil.

"Unter vier Augen", zürnt Hans-Olaf Henkel, "sagt man sich morgens die Wahrheit, und am Abend sagt der Gesprächspartner im Fernsehen wieder genau das Gegenteil. Das enttäuscht mich." Und es enttäuscht nicht nur den abgetretenen Verbandspräsidenten Henkel, sondern auch viele noch im Amt befindliche Kollegen. Auch Verbandspräsidenten wollen nicht immer nur in der Lüge leben, am wenigsten dann, wenn das ewige Lügen und sprachliche Pirouettendrehen in der Öffentlichkeit nichts mehr einbringt, sondern das Leben und den Arbeitseifer nur noch vergiftet und lähmt.

Zwischen Sprache und Wirklichkeit besteht nicht nur eine Übereinstimmung, die auf Verabredungen über gewisse Bedeutungen beruht, sondern es gibt eine ursprüngliche und spontane Gemeinsamkeit, die von niemandem auf Dauer ignoriert werden kann. Double Speak geht immer nur solange gut, solange seine öffentliche Ebene sich nicht allzu weit von jener originären Gemeinsamkeit entfernt.

Wird die Grenze mißachtet, kommt es zur Sprachexplosion, die dann identisch ist mit gesellschaftlichem Umbruch großen und größten Stils wie 1989 in der real existiert habenden DDR. Vier-Augen-Gespräche werden dann plötzlich zu Tausend- und Hunderttausend-Augen-Gesprächen, und niemand fürchtet sich mehr davor.


 
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