© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
Starker Wille und großer Ruhm
Ein Jahr nach der Machtübernahme durch Wladimir Putin sind die deutsch-russischen Beziehungen besser denn je
Wolfgang Seiffert

Mehr oder weniger alle (journalistischen und wissenschaftlichen) Beobachter der Entwicklung im heutigen Rußland bilanzieren die Ergebnisse des ersten Amtsjahres des russischen Präsidenten Putin. Genau genommen ist dies allerdings nicht ganz richtig. Denn die eigentliche Amtszeit des neuen russischen Präsidenten begann mit seiner Inaugurierung im April 2000. Nach dieser Rechnung aber sind es erst acht Monate, seitdem der russische Präsident Wladimir W. Putin heißt. Auch ist es – wenn auch allgemein üblich – ziemlich willkürlich, jeweils zum Jahresende die Bilanz der Tätigkeiten eines Politikers zu ziehen. Doch welchen Journalisten oder Politologen kümmern solche "Formalitäten" schon? Und wenn man will, kann man natürlich auch die Tatsache zum Ausgangspunkt bilanzierender Betrachtung nehmen, daß Putin de facto die Amtsgeschäfte seines Vorgängers Jelzin am 1. Januar 2000 als "amtierender Präsident" übernahm.

Was also ist seitdem in Rußland geschehen?

Nehmen wir zunächst die Fakten. Putin bildete eine Regierung Rußlands unter dem früheren Finanzminister Kasjanow, der neue Mitglieder (zumeist alte Bekannte Putins aus Petersburger Tagen) angehören, wie der Finanzminister Kudrin oder der Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel, German Gref. Er teilte das Land in sieben föderale Verwaltungsbezirke auf und stellte an deren Spitze "Bevollmächtigte des Präsidenten", die vor allem die Einhaltung der Verfassung, der föderalen Gesetze und der Erlässe des Präsidenten kontrollieren sollen. Diese neu geschaffenen Posten besetzte er überwiegend mit ehemaligen Generalen und Geheimdienstlern. In der Duma erreicht er die Annahme von Gesetzen, die den Föderationsrat neu formieren und die Praxis beenden, daß die Gouverneure automatisch "Senatoren" im Föderationsrat sind. Er schuf einen neuen "Staatsrat" als Beratungsorgan des Präsidenten, dem die Gouverneure angehören, der aber an dem Gesetzgebungsverfahren nicht beteiligt ist. Bei den jüngsten Gouverneurswahlen (zum Beispiel in Woronesh, in Uljanowsk, in Chakassien) setzten sich Putins ergebene altgediente Militärs und Geheimdienstler durch. Putin drängte auf eine Reform der dritten Gewalt, des Gerichtssystems. Hierzu gehört die beabsichtigte Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Qualifizierung und Spezialisierung der Richter und der Gerichte.

Die positiven Ergebnisse der wirtschaftlichen Entwicklung (der Außenhandel brachte Einnahmen in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar; die Industrieproduktion wuchs um 9,5 Prozent) – die allerdings vorwiegend auf die gestiegenen Preise für Erdöl (um 41 Prozent) und Gas (um 76 Prozent) zurückzuführen sind – erlaubten eine Steigerung der Einkünfte der Bevölkerung um 9,3 Prozent und der Renten um 50 Prozent. Eine weitere Einnahmequelle waren die Rüstungsexporte, mit denen Rußland im abgelaufenen Jahr rund 4,3 Milliarden US-Dollar erzielte und damit seinen Rang als drittgrößter Waffenexporteur der Welt behauptete. Die Duma verabschiedete ein Steuergesetz, mit dem ab dem 1. Januar des begonnenen Jahres die Einkommensteuer für alle auf 13 Prozent festgesetzt wird. Bisher war sie gestaffelt und betrug im Spitzensatz 35 Prozent. Ziel des Gesetzes ist die Erhöhung der Steuermoral, wobei stillschweigend davon ausgegangen wird, daß eine allgemein niedrige Steuer anreize, die Steuerpflicht auch zu erfüllen. Begonnen wurde mit der Strukturreform des Energiesystems, und zwar sowohl für Strom als auch für Gas. Allerdings gibt es noch unterschiedliche Konzeptionen, und zu einer Entscheidung dürfte es erst im Verlaufe des begonnenen Jahres kommen. Hinsichtlich der Organisation der Wirtschaftsgesellschaften verabschiedete die Duma ein "Gesetz über die Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Abkommen der Produktionsteilung" sowie des "Gesetzes über Aktiengesellschaften", die Anfang dieses Jahres in Kraft treten dürften. Sie enthalten vor allem Neuregelungen, die dem Staat größere Einflußmöglichkeiten eröffnen.

Außen- und sicherheitspolitisch ist die Aktivität und Zielrichtung des neuen Präsidenten offensichtlich: Ihr liegt das Konzept einer eurasischen Außenpolitik zugrunde, die Rußland als eurasischen Kontinent versteht, dessen außenpolitischen und sicherheitspolitischen Interessen von Europa bis nach Asien reichen. Reisen und Verträge über wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit führten Putin nicht nur in die Staaten der GUS, sondern auch nach Usbekistan, nach Zentralasien, China, Nordkorea und führten zur Wiederbelebung alter Kontakte und Vereinbarungen und zum Abschluß neuer Abkommen.

Russische Zeitungen wie die Iswestija sprachen sogar vom Entstehen einer "eurasischen Nato". Mit dem Iran schloß Rußland ein Abkommen über militärische Zusammenarbeit und nahm den Export von Rüstungsgütern in den Iran wieder auf. Dies alles hielt Putin nicht davon ab, mehrere europäische Staaten zu besuchen und mit der Spitze der Europäischen Union in Paris zusammenzutreffen.

Trotzdem wäre es falsch, zu rufen: "Schau westwärts, Putin", wie Die Zeit dies tut. Putin muß weder nach Europa noch nach Asien schielen. Er muß auf Rußland blicken, und dort sieht er, daß sein Reich von Europa bis Asien reicht. Diese geopolitischen Interessen muß er vertreten, und eben dies unternimmt er auch. In dieses Konzept paßt auch der Beschluß des Sicherheitsrates, die russischen Streitkräfte in den nächsten fünf Jahren um 600.000 Mann zu verkleinern. Das alles war vorauszusehen (siehe mein Buch "Wladimir Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?").

Die Frage, die sich allerdings stellt, ist die, ob diese innenpolitischen und außenpolitischen Aktivitäten Rußland unter seinem neuen Präsidenten schon ausreichen, um von einer umfassenden Konsolidierung des Landes zu sprechen. Zweifellos nicht.

Neben den Fortschritten oder zumindest Ansätzen zur Stabilisierung bleiben riesige Probleme. Im Fernen Osten frieren zigtausende Menschen ohne Strom. In Tschetschenien ist der eigentliche Kries zwar zu Ende, auch die Terrorakte gingen zurück, doch der Konflikt um Tschetschenien bleibt auf der Agenda des Europarats, und die Entmilitarisierung der Verwaltung in Tschetschenien kommt nur langsam voran.

Rußland drücken weiterhin die hohen Altschulden gegenüber den westlichen Staaten und dem IWF, die allein im Jahre 2003 mit 17 Milliarden Dollar zu Buche schlagen können.

Wer überhaupt der Meinung ist, es sei an der Zeit, Rußland mit einigen "großen Aktionen" voranzubringen, wird das im Jahre 2000 Erreichte für unzureichend und ohne Visionen ansehen. Indessen muß man realistischerweise sehen, daß mehr in diesen acht oder, wenn man will, 12 Monaten der Amtszeit Putins nicht möglich war. Auch stimmt es, daß Putin nicht der große Visionär ist, wie das vielleicht sein Mentor, der verstorbene Bürgermeister von St. Petersburg, Sobtschak, gewesen wäre. Doch vieles spricht dafür, daß das gegenwärtige Rußland den "Manager" braucht, als der sich Putin jüngst wieder bezeichnete. Das Jahr 2000 jedenfalls hat den Russen Putin erneut als jenen Politiker erscheinen lassen, der für die Funktion des Präsidenten geeignet, ja lange ersehnt wurde. Trotz der Tragödie des U-Bootes "Kursk" sind fast 70 Prozent der Russen bei Umfragen dieser Meinung, und zwischen 60 und 80 Prozent der Bevölkerung akzeptierten die von Putin protegierte neue/alte Hymne mit einem neuen patriotischen Text. Das ist übrigens keine "Nostalgie", sondern Ausdruck der Überzeugung vieler, daß ihr Land geschichtlich und gegenwärtig ein Land ist, zu dem man sich bekennen, auf das man vielleicht sogar stolz sein kann. Wir sollten jedenfalls bei der Wiedergeburt der Hymne aus der Sowjetzeit nicht nur an die Verbrechen der Stalinzeit denken, sondern auch daran, daß die Völker Rußlands mit dieser Melodie auch den Sieg im Zweiten Weltkrieg verbinden.

Das alles hindert natürlich nicht an der Feststellung, daß Rußland durchgreifende Reformen braucht. Doch wer wollte abstreiten, daß solche eingeleitet wurden und daß sie ihre Zeit brauchen, nicht zuletzt in einem Land von der Größe Rußlands?

Was nun die deutsch-russischen Beziehungen anbelangt, so sind sie in einem Maße intensiviert worden, das die Erwartungen übertrifft. Das private Treffen der Ehepaare Schröder und Putin am russisch-orthodoxen Weihnachtsfest (am 7. Januar) in Moskau und anderswo könnte sie trotz des privaten Charakters weiter voranbringen – Putin bemühte sich vielfach um die Entwicklung des Verhältnisses Rußlands zu Deutschland.

Er besuchte im Sommer Berlin, empfing den Bundeskanzler in Moskau und – weitgehend unbeachtet und in seiner Bedeutung unterschätzt – erhob am Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-russischen Partnerschaftsvertrages, der noch von Gorbatschow und Kohl unterzeichnet worden war, diesen Vertrag in einem Artikel in einer deutschen Tageszeitung bewußt zur fortgeltenden Grundlage der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland. In diesem Beitrag sprach Putin ausdrücklich von der großen Reserve, welche die Rußlanddeutschen – sowohl die in Rußland verbliebenen wie die jetzt in Deutschland lebenden – für die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Staaten darstellen. Und der russische Ministerpräsident Kasanow antwortete auf die Frage des deutschen Nachrichtenmagazins, ob es jetzt zur Wiederherstellung der Republik der Wolga-Deutschen käme: "Wir unternehmen alles, damit die Rußlanddeutschen ihr Vaterland nicht verlassen müssen."

Auch von Bundeskanzler Schröder sind neue Töne zu vernehmen: "Putin – das ist ein Mann, der Deutschland sehr gut kennt, der glänzend Deutsch spricht ..." und vor dessen politischen Leistungen er "großen Respekt" habe.

Sicher ist es richtig, daß persönliche Sympathien nicht über die bestehenden Interessen der von den Politikern vertretenen Staaten hinwegtäuschen dürfen. Sicher sucht Rußland Gemeinsamkeiten gegen amerikanische Raketensysteme und wünscht einen Abbau – sprich: Reduzierung – seiner Schulden, sicher braucht Deutschland mehr Öl und Gas von Rußland usw.

Aber vielleicht sind nicht nur freundliche Gespräche im privaten Kreis, sondern auch gemeinsame Interessen oder zumindest ein Interessenausgleich möglich?

 

Rußlands neue Hymne

Rußland, unser heiliger, mächtiger Staat, Rußland unser geliebtes Land.

Starker Wille und großer Ruhm sind dein auf ewig!

Refrain:

Sei gerühmt, freies Vaterland,

ewige Union der Brudervölker,

von den Ahnen übermittelte Volksweisheit.

Sei gerühmt, Heimat. Wir sind stolz auf dich.

Von den südlichen Meeren bis zum Polarkreis erstrecken sich unsere Wälder und Äcker.

Du bist einmalig auf der Welt!
Du einzigartige, von Gott bewahrte Heimaterde!

Eine endlose Weite für Traum und Leben eröffnet uns die Zukunft. Die Treue zur Heimat gibt uns Kraft, so war es, so ist es, und so wird es immer sein!


Den Text für die neue russische Hymne schrieb der 87jährige Sergej Michalkow. Zu der berühmten Melodie von Alexander Alexandrow dichtete er 1942 für die Sowjetunion: "Durch Sturmwolken bricht sich die Sonne der Freiheit Bahn; Auf dem Weg, den der große Lenin uns wies. Treue zum Volke hat Stalin uns vorgelebt. Zu Arbeit und Heldentum uns inspiriert. Unsere Armee wurde in Stahlgewittern geboren."

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Wladimir W. Putin – Wiedergeburt einer Weltmacht?", Langen Müller, München 2000.


 
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