© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/01 12. Januar 2001

 
BLICK NACH OSTEN
Ostpreußische Atomraketen
Carl Gustaf Ströhm

Eine Meldung verdrängte zum Jahresanfang eine andere aus den Schlagzeilen – dabei wäre die verdrängte Nachricht mindestens ebenso wichtig. Während sich westliche Medien und Politiker auf das "Balkan-Syndrom" – die Leukämieanfälle unter KFOR-Soldaten im Kosovo – stürzten, verschwand eine andere Erscheinung im Nichts. Diese Erscheinung könnte man als "Kaliningrad-Syndrom" bezeichnen. Aus US-Quelle war lanciert worden, daß Rußland in seine Enklave Nord-Ostpreußen neuerdings Kernwaffen verlegt habe, in deren Reichweite von 70 Kilometern sich beträchtliche Teile Polens und Litauens befänden.

Das russische Dementi folgte auf dem Fuß. Es sei doch für Rußland sinnlos und kontraproduktiv, versicherten Moskauer Verteidigungsexperten, durch solche Waffenkonzentrationen den Westen und besonders die westlichen Nachbarstaaten – von Polen bis zum Baltikum – gegen sich aufzubringen. Schweden, das jetzt den EU-Vorsitz führt, ließ erklären, es glaube den russischen Dementis. Allerdings fügte ein Sprecher des Stockholmer Außenamts hinzu: "Die Stationierung russischer taktischer Atomwaffen in der Region Kaliningrad wäre eine außerordentlich ernste und bedauernswerte Maßnahme, von der wir hoffen, daß die russische Seite sie niemals ergreifen wird". Aber allein die Tonlage dieses schwedischen Dementis klingt so, als würde man dem "russischen Bären" im Ernstfall auch hier allerhand zutrauen. Noch mißtrauischer reagierten die Polen. Der Sicherheitsberater des polnischen Präsidenten Kwasniewski, Marek Siwiec, verlangte im Namen der gutnachbarlichen Beziehungen eine Untersuchung. Und ein Warschauer Regierungssprecher schlug gar eine internationale Inspektion der Königsberger Enklave vor, die – bei günstigem Ausgang – allen Spekulationen ein Ende machen könne.

Gar so sinnlos wäre ein solchermaßen "dementierter" russischer Schritt keineswegs. Die russische Seite könnte ein weiteres Mal die Entschlossenheit der USA und des Westens testen. Jede konsistente russische Strategie und Politik muß die "Sollbruchstelle" zwischen Europa und den USA entdecken und ausnutzen. Zugleich wird unter den baltischen Staaten – die als Beitrittskandidaten immer noch auf die vage versprochene Aufnahme in die Nato warten, eine Art Panikstimmung verursacht, die Moskaus Intentionen nur dienlich sein kann. Die Siebzig-Kilometer-Raketen im Gebiet Königsberg/Kaliningrad müssen nicht abgefeuert werden, sie müssen nicht einmal physisch vorhanden sein – es genügt, daß sie vorhanden sein "könnten". Auf diese Weise wird Rußland ins Spiel gebracht – besonders in der Übergangsphase von Clinton zu Bush.

Der russischen Seite ist zweierlei nicht entgangen: Nämlich, daß sich der Republikaner Bush im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht als Exponent der "Fun-Generation" darbietet und daß er mit einer Mannschaft antritt, die im Ruch ist, aus "Kalten Kriegern" zu bestehen. Die Akzente der US-Außenpolitik könnten sich in Richtung nüchterner Machtpolitik und klarer Konfrontation mit den potentiellen Gegnern, darunter auch Rußland, verschieben. Interessant ist für Moskau, daß fast die gesamte europäische Linke gegen den "konservativen" Bush ins Feld zieht. Die US-Republikaner haben die neoimperialen Ambitionen Putins besser durchschaut als etwa der deutsche Kanzler, der – nicht gerade zur Freude Washingtons – zum orthodoxen Weihnachtsfest nach Moskau pilgerte. Vielleicht waren die Atomraketen ein erster kleiner Härtetest. Die Russen lieben es, die Dinge bis an ihre Grenze auszureizen.


 
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