© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
"In Freiheit dienen"
Wolfgang Venohr über den Kulturstaat Preußen und Deutschlands Chance dank dessen Erbe
Moritz Schwarz

Herr Dr. Venohr, Preußen hat in diesem Jahr seinen dreihundertsten Geburtstag. Warum ist diese Erinnerung für uns heute noch wichtig?

Venohr: Vielleicht gestatten Sie, daß ich das an meinem Beispiel deutlich mache: Etwa von 1960 bis 1990 war Preußen für mich ein wichtiges Mittel im Kampf um die deutsche Einheit. In all meinen Artikeln, Büchern und Filmen schwang ich das Schwert für Preußen. Das ging so weit, daß der stellvertretende Pressechef beim Ministerrat der DDR – ich habe dort ja viele Filme gedreht, ich durfte das jahrelang als einziger westdeutscher Journalist – mir heftig erregt vorwarf, ich hätte der DDR das Preußen-Etikett aufgeklebt und das sei nun nicht mehr abzukriegen. Ja, genau das hatte ich gewollt, ich wollte der DDR das Preußen-Etikett aufkleben, damit klar ist und bleibt, daß sie ein Teil Deutschlands ist.

Sie sind gebürtiger Berliner – ist Berlin noch Preußen?

Venohr: Nein, weder Berlin noch eines der neuen Bundesländer kann man als Preußen bezeichnen.

Dennoch gab es im Zuge der versuchten Länderfusion Berlin-Brandenburg 1996 eine Initiative in der hiesigen Jungen Union, das gemeinsame Land wieder Preußen zu nennen.

Venohr: Sicher wäre es trotz allem gut gewesen, wäre die Junge Union damit durchgedrungen, um den Namen Preußen in der deutschen Geschichte wachzuhalten. Vielleicht wird es noch einmal in der Zukunft dazu kommen – ich weiß es nicht.

Gleichwohl wäre es doch nur ein Name – ist denn Preußen überhaupt denkbar ohne sein zweites Kernland: Ostpreußen?

Venohr: Nein, zum einen ist Preußen nur denkbar mit den ostdeutschen Ländern, die verlorengegangen sind – Ostpreußen, Schlesien, Hinterpommern und Ostbrandenburg –, zum anderen war Preußen immer eine Monarchie.

Diese Länder sind Raubgut Polens und Rußlands. Ist es wichtig, daß die deutsche Politik dafür Sorge trägt, daß Russen und Polen nun wenigstens das Erbe der gestohlenen Gebiete annehmen?

Venohr: Nein, da können Russen und Polen nicht viel tun. Preußen ist ein deutsches Kulturgut, und die deutsche Nation hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich Preußens zu erinnern.

Es gehört zum guten "demokratischen" Ton, Preußen in der öffentlichen Debatte im allgemeinen zu verteufeln. Hört man aber genau hin, äußern sich viele etablierte Persönlichkeiten doch voller Respekt und Anerkennung über preußischen Geist, Geschichte und Tugenden. Ist das Schizophrenie oder Krummbuckelei?

Venohr: Ich glaube, wir müssen ausgehen von dem albernen alliierten Auflösungsbeschluß vom 25. Februar 1947, in dem Preußen – das längst tot war – vorgeworfen wurde, ein Hort des Militarismus und der Reaktion gewesen zu sein. Diese Stereotype ist ja sattsam bekannt. Tatsache ist, Preußen ist bis heute eines der umstrittensten historischen Phänomene. Übrigens hat einer der größten Preußen, Theodor Fontane, in den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", vom "gleich zu hassenden, wie zu liebenden Preußen" gesprochen. Die Preußen waren immer sehr selbstkritisch: Theodor Fontane, Heinrich von Kleist, Friedrich der Große ... Aber – es wird ja sehr viel gesprochen von den "preußischen Tugenden". Das ist mir zu allgemein: Pflichterfüllung, Tapferkeit, Ordnungsliebe etc. sind doch menschliche Tugenden, warum sollen die spezifisch preußisch sein? Das Preußentum beinhaltet vor allem etwas anderes – und das hat mit einer politischen Wiedergeburt Preußens als Staat überhaupt nichts zu tun, sondern geht als Erbe und Ansporn über die Zeiten fort –, das ist die Symbiose in Preußen zwischen Ordnung und Freiheit, oder besser ausgedrückt: zwischen Bindung und Freiheit. So hat es auch einer seiner Besten, Henning von Tresckow, genannt. Und die Deutschen haben sehr viel Grund und Anlaß – vor allem mit Blick auf die Zukunft, die, so glaube ich, für alle sehr hart werden wird –, sich an dieses Erbe zu erinnern. Fontane hat das in den Satz gefaßt und als Lebensdevise ausgegeben: "In Freiheit dienen". Das heißt, daß man nicht nur Rechte einfordern kann – die hat es übrigens in Preußen immer gegeben; Preußen war der erste Rechtsstaat Europas –, sondern zu den Rechten müssen immer auch die Pflichten gehören.

Ärgerlich bleibt, daß zwar in Kulturgesprächen viel positiv von Preußen gesprochen wird, diese Appelle aber nie Folgen haben, da die betreffenden Personen diese Bekenntnisse nie aktiv in der öffentlichen Debatte vertreten.

Venohr: In praxi sind es leere Worte. Schöne Worte zu Jubelfeiern. – Bedenken Sie einmal, dann müßte man ja an die Gesellschaft preußische Anforderungen stellen, etwa, nicht mehr Egoist zu sein. Was meinen Sie, was da bei uns los wäre!

Dann werden sich weiterhin, und gerade in diesem Jahr, Honoratioren ganz un-preußisch im Glanze Preußens spiegeln?

Venohr: Man muß wissen, wem man was vorwerfen kann: Den Liberalen kann man nichts vorwerfen, die hatten mit Preußen nie etwas am Hut. Die Linken wissen nichts und wollen nichts von Preußen wissen, seit jeher. Die Konservativen, denen muß man das vorwerfen!

Nicht auch den Sozialdemokraten? Sie haben viele preußische Ideen auf ihre Weise verwirklicht, sich spätestens seit 1900 als gute Preußen erwiesen – Haffner scherzte sogar von den "königlich preußischen Sozialdemokratie" –, und 1918 beerbten sie den Staat quasi. Fontane schon schreibt im "Stechlin", in jedem wahren preußischen Junker stecke auch ein kleiner Sozialdemokrat.

Venohr: An ihrem Anfang stand sogar ein Mann wie Ferdinand Lassalle, ein großer preußischer Patriot. Der Konflikt mit Bismarck hat dann alles sehr kompliziert. 1914 eilen die Sozialdemokraten zu den Fahnen, und ein Mann wie Friedrich Ebert war zweifellos ein Patriot. Das zieht sich fort bis zu Kurt Schumacher – übrigens ein bekennender Westpreuße. Auch am 20. Juli 1944, vertreten durch Julius Leber, beteiligte sich die Sozialdemokratie am Versuch, das Reich zu retten. – Also, die Sozialdemokraten könnten ganz leicht und mit vollem Recht preußische Traditionen aufnehmen. Preußen war eben nicht nur ein konservativer Staat; in bestimmten Epochen seiner Geschichte und in vielen seiner Traditionen war es auch fortschrittlich-revolutionär. Und hätten die Sozis die preußischen Traditionen und das Erbe nicht den Nationalsozialisten überlassen – einschließlich des Kampfes gegen Versailles –, hätten sie sogar das Reich vor Hitler retten können.

Was ist Preußen also – eine Idee?

Venohr: Eine Staatsidee. Der Gedanke des Dienens, ich erläuterte das schon. Heute will keiner mehr irgendwem dienen. Jeder will machen, was er will. Das gab es in Preußen natürlich nicht. Der König gab das Gesetz, und danach hatte man sich zu richten; die eigene Freiheit fand man beispielsweise in der Frage nach Gott. Der Politiker oder große Kopf, der heute von Preußen reden will, sollte auch zu Taten schreiten: er müßte das wieder in den Mittelpunkt des Denkens rücken, was heute so absolut verpönt ist. Die Schlagworte unserer Zeit sind "Globalisierung" oder "Privatisierung", alle verbunden mit dem Scheinbegriff der Freiheit; aber der Begriff – oder die Idee, wie Hegel es genannt hätte – des "Staates" wird bis zu seinem Verschwinden zurückgedrängt. Preußen war ein Staat in der anspruchsvollsten Bedeutung dieses Wortes! Und die Deutschen müssen wieder den Staat erfinden, wenn sie überleben wollen. Dabei werden ihnen wohl nur die preußischen Gedanken helfen ...

Die Geschichte Preußens ist zunächst einmal eine ungeheure Erfolgsgeschichte.Wie ist dieser enorme Aufstieg zu erklären?

Venohr: Preußen war eine historische und geopolitische Notwendigkeit. Denn es gab spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg keine politische Ordnungsmacht mehr in Nord- und Ostdeutschland. Man kann sich gar nicht vorstellen, was geworden wäre, hätte es Preußen nicht gegeben. Vermutlich würden heute die Polen in Magdeburg, Weimar und Lübeck sitzen. Von den Süddeutschen konnte man zu dieser Zeit nichts Gesamtdeutsches mehr erwarten. Die Zeiten des Reiches waren vorbei. Und auch die Großmacht Schweden war ausgefallen. In dieser Situation gelang es durch die Tätigkeit einer Familie – übrigens einer unglaublich begabten Familie –, nämlich der Hohenzollern, einen Staat zu errichten, der ein Vakuum gefüllt hat. Preußen hatte die Mission, in Deutschland eine Führungsrolle zu übernehmen. Das gelang auch. Doch kaum hatte es diese Aufgabe erfüllt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch Otto von Bismarck, ist es auch schon in Deutschland untergegangen. "Aufgegangen", sagte man damals, tatsächlich aber "untergegangen" – Preußen hat sich geopfert, es hat in Deutschlands Adern sein Blut verströmt.

War es unausweichlich, daß Preußen unterging?

Venohr: Es war unausweichlich, denn Preußen war ja keine Nation, sondern Preußen war ein Staat. Und im Zeichen der nationalen Idee, in der das ganze 19. Jahrhundert stand – und in der, wie ich glaube, die Welt heute erst recht steht, auch wenn die Deutschen das nicht wahrhaben wollen –, konnte der preußische Staat nur untergehen.

Haben Sie eine Träne um Preußen im Auge, wenn Sie an den 18. Januar 1871 denken, den Tag, an dem Preußen eigentlich "endet"?

Venohr: Nein. Ich bin zwar als preußischer Staatsbürger geboren, denn 1925 gab es ja noch den Staat Preußen innerhalb des Deutschen Reiches, und bekenne mich ja auch dazu; aber wichtiger ist eben mein Bekenntnis zur deutschen Einheit, damals zum Deutschen Reich.

Der endgültige Vernichter Preußens, noch vor den Alliierten, war Hitler. Die Nationalsozialisten zerschlugen 1933 den Staat Preußen.

Venohr: Hitler ist in meinen Augen der Anti-Preuße schlechthin. Er hatte für diesen Staat überhaupt keinen Sensus, er entsprach nicht seinem Wesen, nicht seiner Philosophie. Er war zwölf Jahre Reichskanzler in Berlin und ist nicht einmal auf die Idee gekommen, auf die jeder Tourist kommt, einmal nach Sanssouci zu fahren. Ein näheres Verhältnis zu Friedrich dem Großen hat er erst ab 1944 entwickelt, als es endgültig schiefging. Hitler denkt völkisch und nicht "im Staat".

Er denkt vor allem rassisch, etwas, was der Preuße überhaupt nicht versteht.

Venohr: Nein: "Und wenn Türken und Heiden nach Berlin kommen, so wollen wir ihnen Moscheen bauen", sagt Friedrich der Große. Mit der Frage des Rassismus hatte Preußen nicht das Geringste am Hut.

Bekennt sich also, wer sich zum Preußentum bekennt, unausgesprochen gegen den Nationalsozialismus?

Venohr: So einfach kann man das nicht sagen, weil es ja die Vereinnahmung Preußens durch den Nationalsozialismus am berühmten "Tag von Potsdam" gab. Und viele Leute, die sich unbedingt als Preußen bekannt haben, sind zunächst mit Hitler mitmarschiert.

Weil sie eben doch nicht konsequent genug in ihrem Preußentum waren.

Venohr: Das halte ich für falsch. Man muß an den Anfang der Erklärung des Phänomens Hitler die Erklärung "Versailles" setzen. Es gibt am Anfang – ich selbst habe das als Kind ja alles noch miterlebt – kein anderes Thema als das Schanddiktat von Versailles. Darin waren sich alle einig, Kommunisten wie Nationalsozialisten und eben auch preußische Offiziere.

Welche Rolle spielt das Preußentum für denWiderstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus?

Venohr: Es ist doch bezeichnend, daß von den etwa 160 bis 180 aktiven Verschwöreren des 20. Juli ungefähr die Hälfte Angehörige alter preußischer Adelsgeschlechter waren! Übrigens hieß es nach dem 20. Juli im Schwarzen Korps, der Zeitschrift der SS, der wahre Feind Hitlerdeutschlands sei – Preußen. Die SS hatte das ganz gut erkannt. Aber auch Nicht-Adelige, etwa eine so wichtige Figur wie Carl Goerdeler, haben sich ganz auf das Preußentum gestützt. Und Goerdelers Rundfunkansprache, die er für den Fall eines Gelingens des Umsturzes konzipiert hatte, bezog sich ganz dezidiert auf Preußen. Was Stauffenberg angeht, so hatte auch er einen Zugang zu Preußen über seinen Vorfahren Neidhardt von Gneisenau, dessen Schriften er aufmerksam studierte und die in seinem Umsturzgedanken eine große Rolle spielen.

Wäre denn ohne Preußens geistiges Erbe der deutsche Widerstand uberhaupt so denkbar gewesen?

Venohr: Ich glaube nicht. Vorbereitung und Durchführung des einzig erfolgversprechenden Aufstandsversuches lag bei den preußisch gefärbten Kreisen. Aber es geht auch um die Entwicklung von Gewissen und Verantwortung, die zum Widerstand notwendig sind. Preußen, das waren ja nicht nur seine Offiziere. Militarismus gab es in der preußischen Geschichte überhaupt nur zwei Jahre lang, 1917–18, als die Generäle Hindenburg und Ludendorff quasi eine Militärdiktatur führten. Preußen aber ist vor allem das Land, das mit dem Potsdamer Edikt des Großen Kurfürsten zur Aufnahme der Hugenotten in der ganzen Welt bekannt geworden ist. Preußen war, abgesehen von Amerika, zeitweilig das größte Einwanderungsland. Es war nicht nur der erste Rechtsstaat, es war auch der größte Toleranzstaat Europas.

Preußen hat einen tiefen und differenzierten Toleranzbegriff entwickelt. Heute dagegen ist der Toleranzbegriff einfältig und grob: Er liegt wohlfeil auf der Straße. Wird er der Überlieferung aus preußischem Geist überhaupt noch gerecht?

Venohr: Nein, das ist vollkommen richtig. Toleranz ist kein Weihnachtspäckchen, das man geschenkt bekommt. Die Toleranz Preußens war zugleich an Anforderungen geknüpft, die man erfüllen mußte. Und das wußten auch alle, die hierher kamen, in das "gottgelobte Land des Königs von Preußen", wie die Salzburger sangen, die hier zu Zehntausenden einwanderten. Man hatte als Bürger Preußens forthin seine Pflicht zu tun.

Wieso konnte sich Preußen 1944 noch einmal zum Kraftakt des 20. Juli aufbäumen, verpuffte aber nach der Kapitulation so völlig ins Nichts?

Venohr: Das Preußentum ist endgültig zerschlagen – in den Nerv getroffen worden –, als ihm die Ostgebiete entrissen und seine Kernlande vernichtet wurden. Preußen ging unter – ein Verlust nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa.

 

Dr. Wolfgang Venohr geboren 1925 in Berlin, studierte er Geschichte und Germanistik. Bevor er von 1965 bis 1985 als Chefredakteur bei "Stern TV" und "Lübbe TV" tätig war, arbeitete er bei verschiedenen Tageszeitungen. Zwischen 1969 und 1974 wurde er bekannt als der einzige westdeutsche Journalist, der aus der DDR direkt berichten durfte. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Patrioten gegen Hitler. Der Weg zum 20.Juli " (Lübbe, 1984); "Staufenberg – Symbol der deutschen Einheit" (Ullstein, 1986); "Preußische Profile" (Propyläen, 1982); "Der Soldatenkönig – Revolutionär auf dem Königsthron" (Ullstein, 1988); "Fredericus Rex" (Lübbe, 1990); "Der große König" (Lübbe, 1995); "Fritz der König" (Lübbe, 2000)

 

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