© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/01 05. Januar 2001

 
Der Staat als Idee
Preußen-Jahr 2001: Der Mythos eines organischen Gemeinwesens lebt
Karlheinz Weißmann

Einen preußischen Gründungstag anzugeben, fällt schwer. Der Name "Preußen" geht schon auf das alte Ordensland und dann das weltliche Herzogtum zurück, die man eigentlich nur der Vorgeschichte Preußens zurechnen kann. Die Bezeichnung selbst war abgeleitet von jenem baltischen Stamm der Pruzzen, den es lange nicht mehr gab, als Preußen zu historischer Bedeutung aufstieg. Preußen als Begriff für das Ganze der hohenzollernschen Gebiete kam überhaupt erst am Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Noch das berühmte "Allgemeine Landrecht" trat in Kraft für die "preußischen Staaten".

Insofern ist der 18. Januar 1701 vielleicht doch die beste unter den schlechten Möglichkeiten: der Tag, an dem sich Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, in Königsberg die Krone eines "Königs in Preußen" aufs Haupt setzte. Er hatte das Recht dazu vom Kaiser in Wien teuer erkauft und mußte den Anspruch auf den außerhalb der Reichsgrenzen liegenden Teil der Territorien beschränken. Sein Enkel, Friedrich der Große, bemerkte dazu: "Friedrich III. schmeichelte in der Tat nur das Äußere an der neuen Königswürde, der Prunk der Repräsentation und eine gewisse verkehrte Eigenliebe, die andre gern ihre untergeordnete Stellung fühlen läßt. Was aber in seinem Ursprung nur ein Werk der Eitelkeit war, erwies sich in der Folge als ein politisches Meisterstück. Durch die Königswürde entzog sich das Haus Brandenburg der Knechtschaft, in der Österreich damals alle deutschen Fürsten hielt. Es war eine Lockspeise, die Friedrich III. seinen sämtlichen Nachkommen hinwarf, gleichsam als hätte er sagen wollen: ’Ich habe euch einen Titel erworben, macht euch seiner würdig; ich habe die Fundamente eurer Größe geschaffen, ihr müßt nun das Werk vollenden.‘"

Tatsächlich hat die "Lockspeise" ihre Wirkung auf die "Nachkommen" nicht verfehlt. Preußen brachte in den folgenden beiden Jahrhunderten eine ganze Reihe guter und einige außergewöhnliche Monarchen hervor, die seinen Bestand nicht nur wahrten, sondern den mit dem Königtum verbundenen Anspruch überhaupt erst füllten. Trotz der in dieser Zeit gewonnenen Dauer konnte der preußische Staates eine gewisse Künstlichkeit nicht ganz abstreifen. Es blieb unübersehbar, daß Preußen kein "Stammesgebiet" war, daß ihm als Ganzem – natürlich nicht den einzelnen Provinzen – spezifische Sitten und Bräuche fehlten, daß das territoriale Fundament des Gebietes eigentlich Kolonialland war, dessen ursprüngliche Bevölkerung nur in einem allmählichen Prozeß mit den Siedlern aus dem alten Kern des Reiches verschmolz. Über lange Zeit blieb das Territorium zerrissen, und jedenfalls fehlten die natürlichen Grenzen, die widerstrebenden Teile mußten zu einem Ganzen zusammengezwungen werden. Schon deshalb befand sich der preußische Staat die längste Zeit in einem Zustand der Anspannung, was die besonderen Kennzeichen seiner politischen Ordnung hinreichend zu erklären vermag. Die Tradition des "Musterstaates" reichte bis in die Zeit der Deutschherren zurück und wurde wieder aufgenommen unter dem Großen Kurfürsten und fortgesetzt unter Friedrich Wilhelm I., dem "Soldatenkönig", und Friedrich dem Großen. Erst in seiner Regierungszeit bildete sich das spezifisch Preußische vollständig aus. Nach dem Tod des Monarchen sagte der Minister Hertzberg in einer Rede auf den Verstorbenen: "Der Preuße wird fortan seinen eigenen Namen führen und bei dem Klange dieses Namens aufflammen wie einst der Mazedonier oder Römer."

Das Pathos des Preußischen hatte tatsächlich antike Züge. Preußen konnte auch wie ein neues Sparta wirken, wenn man die fast vollständige Verschmelzung von Staat und Heer hervorheben wollte, aber in einem unterschied sich diese Polis von den alten Vorbildern: Sie besaß keine abgeschlossene Bürgerschaft. Es soll hier gar nicht abgehoben werden auf die häufig erwähnten Immigranten, die aus Not oder auf der Flucht vor religiöser Verfolgung nach Preußen kamen, sondern auf jene große Zahl außergewöhnlicher Männer, die nicht durch Geburt, sondern durch Wahl Preußen wurden, angefangen bei Derfflinger über Danckelmann, Lessing, Stein, Scharnhorst und Hegel bis zu Moltke. Sie alle wurden angezogen von dem "Klange dieses Namens" und einem "preußischen Geist", den die unermüdliche Suche nach dem angemessenen Verhältnis von Freiheit und Bindung, Persönlichkeitsrecht und Sittlichkeit prägte. Er fand seinen populären Ausdruck in einem Lied wie "Üb’ immer Treu und Redlichkeit" und schlug sich nieder in der "sublimsten Form fridericianischer Geistigkeit" (Friedrich Nietzsche), Kants kategorischem Imperativ.

Der "Kadavergehorsam" war nur eine Karikatur der preußischen Pflichterfüllung, die sich angemessener in der Nacht nach Kunersdorf zeigte, als die Soldaten an ihrem Platz ausharrten und sich um ihre Unteroffiziere sammelten, obwohl ihre Führer gefallen waren und ihr König überzeugt, die Gepreßten müßten den eigenen Feldwebel mehr fürchten als den Feind. Der "preußische Geist" manifestierte sich auch in der langen Geschichte des preußischen Ungehorsams, beginnend bei dem Junker von der Marwitz, der Friedrich den Befehl verweigerte und den Zorn seines Herren wählte, "weil Gehorsam nicht Ehre brachte", über die Konvention von Tauroggen, und endend bei Männern wie Henning von Tresckow, die im Untergang noch einmal den "preußischen Traum" beschworen. Nicht zu vergessen die dramatische Verdichtung des Themas in Kleists "Prinz von Homburg".

Der "preußische Geist" kann viel von dem unwahrscheinlichen historischen Erfolg dieses Staates erklären. Preußen war eines der wenigen Beispiele für eine "organische Konstruktion" (Ernst Jünger) im politischen Raum: die Schöpfung eines Gemeinwesens, das – obwohl ganz rational entworfen – eine außerordentliche emotionale Bindungskraft entfaltete und sich mit einem Mythos verband, der seine Kraft noch immer nicht ganz verloren hat, obwohl die Militärmonarchie zerstört, die alte Führungsschicht entmachtet, die historischen Landschaften zu einem großen Teil verloren sind.


 
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