© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/00 28. April 2000

 
Gebrochene Biographie
Zum 100. Geburtstag von Ignazio Silone
Werner Olles

Für die Journalistin Franca Magnani, die Ignazio Silone als junges Mädchen in den dreißiger Jahren im Schweizer Exil kennenlernte, war er "ein schöner Mann, mit dunklem Teint, stolzem Auftreten, sehnsüchtigem Blick". Wie die vornehmen Damen des Zürcher Bildungsbürgertums war auch sie fasziniert "von der Persönlichkeit dieses mysteriösen, dunklen, innerlich zerrissenen Künstlers und Idealisten", der immer den Eindruck erweckte, "als ob alle Fröhlichkeit in ihm abgewürgt worden sei". Tatsächlich war Silone geprägt von einem harten Schicksal. Bereits als Elfjähriger hatte er seinen Vater verloren, drei Jahre später zerstörte ein schweres Erdbeben Haus und Hof der Familie und nahm ihm die Mutter und vier seiner fünf Brüder.

Ignazio Silone wurde am 1. Mai 1900 als Secondino Tranquilli in Pescina in den Abruzzen geboren. Der Vater war ein kleiner Gutsbesitzer, der den Jungen auf eine katholische Schule schickte, damit dieser später einmal Priester würde. Doch der junge Mann brach wenige Jahre nach dem großen Unglück, das über seine Familie gekommen war, seine Schulausbildung kurzerhand ab und ging nach Rom, um dort Sekretär der Sozialistischen Jugend zu werden. 1921 gehörte er zu den Gründern der Kommunistischen Partei Italiens und wurde schon bald einer ihrer führenden Funktionäre. Dennoch war der Redakteur der Triester Tageszeitung Il Lavoratore und der römischen Wochenzeitung L ’Avanguardia weniger von der marxistisch-leninistischen Ideologie geprägt als von einem christlich-sozialistisch-humanitären Gedankengut, dem Protest gegen das Versagen der politischen Parteien und seiner Kenntnis der versteinerten Ungerechtigkeit, unter der die armen Landarbeiter seiner heimatlichen bäuerlichen Welt zu leiden hatten.

In seinem Erstlingswerk "Fontamara" – 1930 in einem Schweizer Sanatorium geschrieben – schilderte Silone anschaulich das harte Leben der verschuldeten und geknechteten Kleinbauern in den Abruzzen. Diese Chronik eines verarmten Abruzzendörfchens unter faschistischer Herrschaft ist nicht nur sein bestes Buch, sondern läutete gleichzeitig auch seine Abkehr von den kommunistischen Idealen seiner Jugend ein. Obwohl er ein konsequenter Antifaschist war, hatte er gegen Ende der zwanziger Jahre Kontakte zum faschistischen Geheimdienst geknüpft. Es ging ihm wohl vor allem darum, seinen letzten ihm verbliebenen Bruder Romolo – der ebenfalls Kommunist geworden war – vor der Anklage wegen eines Attentats auf König Viktor Emanuel III., das achtzehn Tote gefordert hatte, zu retten. Silone tat alles, um dem Verhafteten, der an dem Attentat gar nicht beteiligt war, zu helfen, aber der Bruder starb im Oktober 1932 im Gefängnis.

Schon zuvor hatte der Dichter unter dem Pseudonym "Silvestri" mit einem Bekenntnisbrief seinen bevorstehenden Austritt aus der KPI dokumentiert: "Mit meiner Gesundheit sieht es übel aus, die Krankheit hat aber moralische Ursachen. (…) Ich befinde mich an einem außerordentlich schwierigen Punkt meines Lebens. Mein moralisches Empfinden war immer sehr ausgeprägt, jetzt beherrscht es mich völlig. Es läßt mich nicht schlafen, es läßt mich nicht essen, es läßt mich nicht ruhen. (…) Es gibt nur einen Ausweg, den vollständigen Verzicht auf die aktive Politik. Sonst bleibt nur der Tod. Ich muß alles das aus meinem Leben verbannen, was Falschheit, Doppelspiel, Irreführung und Geheimnis ist. (…) Ich will ein neues Leben auf neuen Grundlagen beginnen, um das Böse, was ich begangen, wiedergutzumachen, um mich zu befreien und zu erlösen."

Zu dieser Zeit hatte Silone schwerkrank am Rande des Selbstmords gestanden, seine Rettung sah er nur noch im Schreiben und in einer ideologisch nicht gebundenen Menschlichkeit. In seinem Buch "Brot und Wein" und besonders in dessen Fortsetzung "Der Same unter dem Schnee" erzählte er die innere und äußere Pilgerschaft des Exkommunisten Pietro Spina, einer Spiegelfigur des Verfassers, bis zu seinem Plan, einen Freundschaftsbund der Ärmsten und Geringsten zu gründen. Immer stärker begann er nun das soziale Problem aus einer christlichen Haltung heraus zu sehen, das Politische zurücktreten zu lassen und das Recht auf das Private, Persönliche, das "Geheimnis" als die bewegenden Kräfte der Menschlichkeit zu verstehen.

1945 kehrte Silone aus seinem Schweizer Exil – wo er die theoretische Schrift "Der Faschismus. Seine Entstehung und Entwicklung" verfaßt hatte – nach Italien zurück. Er wurde Leiter der sozialistischen Tageszeitung Avanti!, von "Europa sozialista" und Präsident des italienischen PEN-Clubs. Als Mitglied der Sozialistischen Partei war er Abgeordneter der Verfassunggebenden Versammlung, hier trat er besonders für eine europäische Föderation ein. Seine schriftstellerischen Arbeiten wurden jedoch erzählerisch schwächer. In seinen letzten Büchern "Der Fuchs und die Kamelie", "Notausgang" und "Das Abenteuer eines armen Christen", die in den sechziger Jahren erschienen, thematisierte er noch einmal – teilweise autobiographisch – die moralisch-politischen Probleme aus der Zeit des Faschismus und seine Auseinandersetzung mit Marxismus und Christentum. Über seinen eigenen politischen Weg hatte Silone in dem Sammelband "Der Gott, der keiner war" offen berichtet, dabei jedoch jene Periode ausgespart, in der er wohl ein "über allen Verdacht erhabener Spion des Regimes" (Corriere della Sera) war.

Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – finden Autobiographie und Oeuvre Ignazio Silones, der am 22. August 1978 in Genf gestorben ist, in Italien heute neue Aufmerksamkeit. Daß ein Dichter und Politiker überzeugter Kommunist und leidenschaftlicher Antifaschist war, nach einer entscheidenden Lebenskrise zum Informanten des faschistischen Geheimdienstes und schließlich zum Antikommunisten und Humanisten wurde, gilt wohl nur im neurotisierten Deutschland als eine Sünde wider den Geist.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen