© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/00 11. Februar 2000

 
Philosophie: Zum hundertsten Geburtstag von Hans-Georg Gadamer / Eine Würdigung von Heimo Schwilk
"Verstehen kann man sich nur, wenn man verschieden ist"

Hans-Georg Gadamer ist in Heidelberg eine Größe. Im Weinlokal "Sankt Florian" mitten im Gewirr der Altstadtgassen unterhalb des Schlosses gelegen, spricht ihn eine Studentin an: "Herr Professor Gadamer, darf ich Sie kurz stören? Mein Vater hat bei Ihnen studiert, aber ich weiß nicht, ob Sie sich noch an den Namen erinnern?" Der weißhaarige Herr schaut ohne Zögern auf und sagt: "Natürlich, das war ein aufgeweckter Bursche, vor allem an Heidegger und Nietzsche interessiert. Ich stand damals kurz vor meiner Emeritierung, Ende der sechziger Jahre."

Die Augen des Neunundneunzigjährigen leuchten, er liebt es, an jene Jahre nach der Veröffentlichung seines berühmten Werkes "Wahrheit und Methode" (1960) erinnert zu werden. Vielleicht war es ein Glück für Gadamer, daß er die turbulente Phase nach 1968 als Universitätslehrer nicht mehr erleben mußte. So sind seine Erinnerungen an die Zeit in Heidelberg kaum geprägt von ideologischem Radikalismus oder gar physischer Gewalt. Heute verkörpert Gadamer die Kontinuität einer Philosophie, die sich in Rivalität zur angewandten Naturwissenschaft mit ihren ungeheuren technischen Folgewirkungen um eine neue Autonomie der Geisteswissenschaften bemühte. Für ihn erschließt sich die Welt, trotz aller Dominanz von Wissenschaft und Technik, in erster Linie im Medium der Sprache. Mit seiner seit den dreißiger Jahren entwickelten Philosophie des Verstehens - Gadamer nennt sie in Anlehnung an einen in der Theologie und Jurisprudenz beheimateten Begriff "philosophische Hermeneutik" - hat er nicht zuletzt auch die sprachanalytische Philosophie und über seinen Schüler Habermas sogar die Sozialwissenschaften inspiriert.

Es mag die typische Zuspitzung eines Biographen sein, doch die Bemerkung von Jean Grondin (er hat 1999 eine fundierte Gadamer-Biographie veröffentlicht), das Geburtsjahr von Hans-Georg Gadamer sei ein Schlüsseljahr für die Hermeneutik, hat durchaus etwas für sich. Es ist das Jahr, in dem Nietzsche starb, der mit seiner perspektivischen Philosophie den Sinn für den interpretatorischen Charakter alles Lebendigen geschärft hatte. Sein Name steht bis heute für einen grundsätzlichen Erkenntnisrelativismus, der auch Gadamer nicht fremd ist. Schließlich brachten Edmund Husserl ("Logische Untersuchungen"), Sigmund Freud ("Traumdeutung") und Wilhelm Dilthey ("Die Entstehung der Hermeneutik") im Jahr 1900 bahnbrechende Werke zur Deutung der menschlichen Existenz und ihrer Selbstwahrnehmung heraus. So gesehen ist Hans-Georg Gadamer der Vollender einer philosophischen Entwicklung, die am Ende des von Totalitarismen heimgesuchten 20. Jahrhunderts wegen ihres antiideologischen Gestus ihre Glaubwürdigkeit bewahrt hat.

Das Abendessen im "Sankt Florian" beschließt einen Nachmittag, den ich im Dezember vergangenen Jahres zusammen mit dem Tübinger Philosophen Günter Figal und seiner Frau Barbara im Hause Gadamers verbringen durfte. Für Günter Figal, dem Mitherausgeber einer Festschrift zum Hundertsten, war dies nicht die erste Begegnung, er hat bei Gadamer studiert und vielfach über ihn veröffentlicht. Ich selbst hatte den Namen, unter anderem auch bei Ernst Jünger in Wilflingen, immer mit Hochachtung vernommen, vor allem aber Hans-Georg Gadamers Hauptwerk im Rahmen meiner germanistischen und philosophischen Studien in Tübingen gelesen.

Einmal hörte ich ihn im Fernsehen, als er einen Festvortrag hielt, ohne Manuskript, mit vielerlei Abschweifungen, die seinem rhetorischen Temperament entsprangen. An die damals gehörte sonore und überaus lebendige Stimme erinnerte ich mich, als unser Gastgeber, auf einen Spazierstock gestützt, die Haustür öffnete. Seine Frau sei verreist, habe ihn wieder einmal allein gelassen, sagte er gleich mit entwaffnender Offenheit, so müßten wir uns "halt selbst versorgen". Was er damit meinte, machte sogleich seine Bitte verständlich, wir sollten für ihn in den Keller steigen und zwei, drei Flaschen Rotwein heraufholen. "Oh, da haben Sie aber was Schönes erwischt", lachte er, als Günter Figal einen 88er Bordeaux auf den Tisch stellte. "Das ist einer der Besten – wußte gar nicht, daß ich davon noch etwas besitze."

Das Haus auf dem Büchsenackerhang liegt, umrahmt von Bergen, oberhalb von Heidelberg, die Fahrt hinauf kann im Winter zur Rutschpartie werden. Es ist ein typisches Einfamilienhaus der fünfziger Jahre, etwas klotzig an den Hang gesetzt, mit großen Panoramafenstern und viel Holz an Wänden und Decken. Man kann nicht sagen, daß das Wohnzimmmer das Fluidum einer für Kunst und Dichtung aufgeschlossenen Gelehrtenexistenz ausstrahlt – die kirschholzhellen Einbauschränke vermitteln eher einen Sinn fürs Praktische, allenfalls die Bücherstapel am Boden und die Manuskriptberge auf dem Fenstersims erinnern daran, daß hier musische Menschen zuhause sind.

Was fragt man einen Mann, dessen Existenz sich mit dem Jahrhundert deckt? Der zwei Weltkriege erlebt hat und unter den Bedingungen einer Diktatur seine Forschungen betreiben mußte? Was sind seine Empfindungen, so kurz vor der Jahrtausendwende: Wird sie das Bewußtsein der Menschen verändern? Hans-Georg Gadamer wiegt bedächtig den Kopf, nimmt einen Schluck, sagt: "Die Jahrtausendwende ist das Ergebnis einer gewissen Zeitrechnung, man muß daran nicht glauben." Aber die Ängste vor dem Millennium sind doch real, werfe ich ein, viele fürchten sich vor einem Computer-GAU, Atomraketen könnten gezündet werden, Flugzeuge könnten abstürzen... Nein, er persönlich sei ein optimistischer Mensch, doch – das müsse auch er einräumen – die Lebensangst sei eine ungeheure Kraft: "Am Ende des Jahrhunderts dominiert, anders als vor hundert Jahren, der Pessimismus." Die Menschen hätten lernen müssen, daß das Überleben nicht selbstverständlich ist. Dieses Jahrhundert sei dadurch anders als alle vorangegangenen gewesen. Noch nie hätte sich der Mensch in die Lage versetzt gesehen, die Bedingungen des Lebens zu zerstören. "Angst" sei für ihn der Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts: "Es ist die Angst des Menschen vor sich selbst. Noch nie war der Tod so stark in der Öffentlichkeit gegenwärtig und wurde zugleich so wenig ernst genommen. Heute könnte man den Tod sogar ins Warenhaus verlegen. Wir verkaufen den Tod, machen ein Geschäft daraus. Dennoch müßten wir eigentlich wissen, daß zum Wissen das Wissen von den Grenzen unseres Wissens gehört. Der Tod bleibt ein Geheimnis."

Geburt und Tod sind Geheimnisse geblieben

Hans-Georg Gadamer beugt sich nach vorne, als wolle er den Ernst des Gesagten unterstreichen: "Aber zum Tod gehört auch die Geburt, vergessen Sie das nicht! Bethlehem und Golgatha. Wir Christen leben unter dem Bild des Gekreuzigten. Ich frage mich: Hat die Menschheit ihr eigenes Lebensschicksal erkannt? Eine Menschheit, die das Tabu des Todes zu überwinden sucht? Für mich ist diese Tendenz unbegreiflich."

Ob die Kirchen diesbezüglich versagt hätten, dem Tod einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu geben, frage ich. Die "technologische Rauschstimmung der Gegenwart" sei der Religion nicht günstig, meint Gadamer, dennoch blieben auch in einer vollkommen aufgeklärten Welt der Tod und die Geburt zwei Geheimnisse, "über die keiner sich etwas sagen läßt, das er nicht verstanden hätte." Auch der moderne Mensch könne seine Religiosität nicht verlieren, sie gehöre untrennbar zu seinem Menschsein. Daran ändere auch die Entzauberung von Geburt und Tod durch die Gerätemedizin nichts. In Wahrheit seien die Geheimnisse nicht wirklich berührt, trotz der Technik: "Anfang und Ende bleiben ein Mysterium."

Zu Beginn unseres Gesprächs wirkte der Neunundneunzigjährige ein wenig müde, nach dem ersten Glas Wein befürchtete er sogar, unsere Erwartungen enttäuschen zu müssen. Doch jedes weitere Glas schien ihn aufzumuntern. Uber die Zukunft der Philosophie mache er sich keine Sorgen, er sei nun einmal kein Kulturpessimist, auch wenn heute alle über den Niedergang jammerten. "Die philosophische Kraft ist jedem Menschen schon in den ersten Lebensjahren gegeben. Er lernt in seiner Muttersprache sprechen. Dann kommt erst der Vater, die Schule, beginnen uns soziale Einflüsse zu prägen." Da werde dem Kind vieles wieder ausgetrieben, was es an ursprünglicher Sprache entwickelt habe.

Das Fernsehen spiele dabei eine Schlüsselrolle, doch dürfe man auch das nicht überbewerten: "Man kann so manches nicht durch Maschinen weitergeben. Die Philosophie sollte vielmehr die ursprüngliche und schöpferische Sprachkraft immer neu wecken. Das Phänomen Heidegger erklärt sich genauso. Ich habe das auch von ihm gelernt."

Heidegger hatte den jungen Gadamer zwar nicht zur Philosophie angestiftet, seine ersten Lehrer waren die Neukantianer Hönigswald, Natorp und Hartmann, bei denen er in seiner Breslauer und Marburger Zeit studierte, doch die Begegnung mit Heideggers Existenzphilosophie brachte einen neuen Ernst in Gadamers Denken. Nachdem er 1923 einige Wochen mit dem Autor von "Sein und Zeit" auf dessen Hütte in Todtnauberg verbringen durfte, war er endgültig zum Heideggerianer geworden.

Es war auch Martin Heidegger, der ihn in die tiefste geistige Krise seines Lebens stürzte mit dem Vorwurf, er, Gadamer, bringe als Philosoph "nicht genügend Härte gegen sich selbst auf". Noch als längst anerkannter Wissenschaftler, schreibt Gadamer in seinen Erinnerungen, habe er oft das Gefühl gehabt, Heidegger schaue ihm beim Schreiben über die Schulter. Seine "Schreibfaulheit" habe ihn doch sehr belastet.

Gadamers Vorliebe gilt dem Gespräch, dem lebendigen Austausch, immer wieder wurde sein "sokratisches" Temperament gerühmt. Sogar die große Hermeneutik-Studie "Wahrheit und Methode" läßt nach Meinung des Biographen Grondin Spuren der ihr zugrundeliegenden Vorlesung von 1936 erkennen.

Hinter der Neigung zur Mündlichkeit steckt eine wichtige Prämisse von Gadamers Verständnis wirklicher Philosophie: Verstanden hat nur derjenige, der sein Verständnis auch in Worte zu fassen, an den Zuhörenden weiter zu geben vermag. Es gibt für Gadamer kein sprachloses, unausgesprochenes Verstehen, nur im Aufführen und Deuten ist das Verstehen wirklich.

So gesehen, erschöpft sich das Lebenswerk Hans-Georg Gadamers keineswegs in seinem eindrucksvollen schriftlichen Oeuvre, das inzwischen zehn stattliche Bände mit Arbeiten zur klassischen Antike, zur Philosophie der Moderne, zur Kunst und zur philosophischen Hermeneutik umfaßt. Nur wer ihn im Vortrag, im Gespräch erlebt oder in Leipzig, Frankfurt, Heidelberg, Boston und Neapel bei ihm studieren durfte, kann die Wirksamkeit seines Philosophierens, seine immense Vermittlungsleistung ermessen.

Dabei stand am Anfang von Gadamers Persönlichkeitsentwicklung eine tiefgehende Beziehungsstörung. Die Mutter und eine Schwester starben früh, das Verhältnis zum strengen Vater war schwierig, denn der Professor für Pharmazeutische Chemie hatte wenig Verständnis für die musischen Neigungen des Sohnes. Er riet ihm davon ab, zu den "Schwätzprofessoren" zu gehen.

Noch auf dem Totenbett ließ er sich von dem herbeigerufenen Heidegger bestätigen, daß sein Sohn über genügend Talent für die Philosophie verfüge. Sprache war für den Bismarck-Verehrer nur rationales Verständigungsmittel. Die eigentliche Sprachfindung sei durch die Mutter gefördert worden, erinnert sich Gadamer. Die Muttersprache bleibe, der Mensch erlerne sie in den ersten beiden Lebensjahren. "Sie prägt unsere Identität und ist durch nichts zu ersetzen."

Aber sind die Sprachen nicht verschieden, so unser Einwand, muß man nicht befürchten, daß die sich formierende gemeinsame Welt möglicherweise nur von einer der vielen Kulturen bestimmt sein wird? Im Fortgang des Gespräches erscheinen die Fronten seltsam verkehrt: Der fast Hundertjährige plädiert für mehr gelassenes Selbstvertrauen, seine so viel jüngeren Gegenüber formulieren Thesen eines eher fatalistischen Kulturpessimismus. Er glaube nicht, daß diese Sprachnivellierung zwanghaft kommen müsse, bekräftigt Gadamer. Der Widerstand der Kulturen werde diese Weltsprache verhindern. "Schauen Sie nur nach Frankreich oder Polen. Diese Länder sind nicht so leicht zu amerikanisieren."

"Werden die verschiedenen Kulturen von der nivellierenden Gewalt der Globalökonomie aber auf Dauer nicht überformt und ausgelöscht?"

Gadamer: "Ihre Frage beschreibt zwar eine in der Öffentlichkeit vorherrschende Stimmung, aber an die Zwangsläufigkeit solcher Entwicklungen glaube ich nicht. Nur ein bewußtes Widerstehen eröffnet überhaupt Chancen. Ich darf auf Amerika verweisen, was dort an Kultur entwickelt wird, ist enorm."

"Selbst wenn man die positiven Kulturtendenzen in den USA in Rechnung stellt, läßt es sich doch kaum bestreiten, daß es auf der anderen Seite einen weltweiten Prozeß der Nivellierung von Kultur gibt, der unter dem Stichwort ’Amerikanisierung‘ bekannt ist. Sind die kulturellen Widerstandskräfte hierzulande stark genug, dieser Amerikanisierung zu widerstehen?"

Gadamer: "Um gewisse Übertreibungen des Alltags einzudämmen: ja, dazu schon. Aber um Widerstand muß sich auch das Eigene formieren. Ich vertraue auf die schöpferische Kraft unserer Kultur. Die Zukunft hängt von der Herkunft ab."

"Was in Amerika an Kultur entwickelt wird, ist enorm"

Erneute Verkehrung der Ansichten, als wir zum Thema Europa und die Folgen von 1989 wechseln. Jetzt ist zu spüren, wie sehr historische Erfahrung, der Rückblick auf ein Jahrhundert an erlittener Geschichte, vorsichtig macht gegenüber allen politischen Utopien, die allein aus dem guten Willen erwachsen. Für ihn sei in Osteuropa noch nichts entschieden, man dürfe die geopolitischen Tatsachen nicht aus den Augen verlieren. Gadamer: "Wir leben im Umbruch. Die Tatsache eines osteuropäischen Marktes zwingt uns zu ganz neuen Einsichten. Politisch könnte dies einen Rückschlag in den Kalten Krieg bedeuten. Rußland fühlt sich bedroht, zurückgedrängt. Aber vorläufig sehe ich noch immer einen gewissen rauschhaften Enthusiasmus und unter den Klügeren eine ebenso große Besorgnis."

Die Europäer seien dem Umbruch von 1989 nicht gewachsen, auch wenn sich jetzt mit der Idee der Osterweiterung viel Euphorie ausbreite. Die Wirtschaft, von der alle das Heil erwarteten, sei jedoch nicht allein eine staatsbildende Kraft, sondern wirke zugleich staatsunterhöhlend. Er teile durchaus die Befürchtung, daß der sich globalisierende Markt die nationalen Ökonomien und Traditionen enteigne. "Wir müßten uns, um solche falschen Entwicklungen einzudämmen, mehr an Amerika orientieren. Die sind uns im ökonomischen Kampf weit voraus. Aber auch in der Ausbildung ihrer kulturellen Identität sind die Amerikaner für uns vorbildlich."

Überhaupt Amerika. Zehn Jahre lang, von 1968 bis 1978, hat Gadamer an US-Universitäten gelehrt und dort viel Zuspruch empfangen. Man mag gegen sein überaus positives, vielleicht zu freundliches Amerikabild einwenden, Gadamer habe die Wirklichkeit dieses Landes nicht ausreichend zur Kenntnis genommen, nur im akademischen Milieu von Elite-Universitäten verkehrt. Doch seine Begründungen stützen sich nicht nur auf den Zustand der amerikanischen Bildungseinrichtungen, sondern vor allem auf die ökonomische Leistungskraft und die selbstbewußte Identität, wie sie der amerikanischen Nation eigen ist.

Die Kritik an den deutschen Universitäten fällt demgegenüber deutlich aus: "lch denke, daß es so wie im Augenblick auf Dauer nicht weiter gehen kann. Wir können nicht im Abitur und der Universitätsausbildung die Grundvoraussetzung zu fast jedem Beruf sehen. Es muß wieder ein Ausleseprozeß werden. Die jungen Leute müssen vor allem wieder das Lernen lernen. Ich erwarte in diesem Zusammenhang vom deutschen Osten noch viel Gutes. Wir müssen, ich wiederhole es, nach Amerika schauen. Dort findet die Ausbildung einer Management-Elite, aber auch viel humanistische Bildung statt. Man hat dort sogar wieder Lateinschulen aufgemacht. Und es gibt ein großes Interesse für die Philosophie."

Man müsse in Europa endlich zur Kenntnis nehmen, daß gerade in den USA der Werteverfall nicht tatenlos hingenommen werde. Die Atomisierung der Gesellschaft und die Auflösung der Familie seien dort von einer neuen religiösen Bewegung konterkariert worden: "Auf der einen Seite ist es der Atheismus, der triumphiert, auf der anderen Seite werden die alten Werte verteidigt." Die demokratische Gesellschaft basiere auf drei Voraussetzungen: "Kultur, Erziehung, Familie". Die Religion hat also noch eine Chance im kommenden Jahrhundert? Gadamer: "Das ist ungeheuer schwer vorauszusagen. Wir können auf Dauer mit dem Calvinismus, also der protestantischen Leistungsethik, nicht alleine überleben. Das ist ein Extrem. Wir dürfen aber auf keinen Fall eine Gleichmacherei betreiben. Verstehen kann man sich nur, wenn man verschieden ist."

"Die Angst vor dem Untergang zwingt zur Umkehr"

An dieser Stelle formuliert Gadamer sein Credo von der Dialogverpflichtung des Menschen, für den in einer zusammenwachsenden Welt die Fähigkeit zum verständigen Austausch zur Überlebensfrage wird. So gesehen bedeutet Philosophie des Verstehens, daß auch der andere Recht haben könnte: "Die Hermeneutik kann ja besonders dies leisten: den Respekt vor dem anderen wieder zu begründen durch die Tatsache, daß man niemals für sich alleine alles sagen kann. Sondern nur, wenn sich der Horizont erweitert auf den anderen hin. Das muß man den Deutschen erst wieder beibringen."

Die Kirchen mögen ja überleben, werfe ich ein, aber was ist mit dem Erbe der klassischen Antike, wird es in den Schulen der Zukunft noch eine Rolle spielen? Kann man mit Platon oder Aristoteles überhaupt noch unsere Zeit verstehen? Gadamers Replik ist nicht ohne Ironie: Ohne Griechischkenntnisse sei ein Gesprächspartner für ihn kaum zugänglich. "lnsofern bleibt die Wahrheit in kleineren Kreisen – aber sie wird dadurch nicht falsch." Auch im Zeichen des Computers könnten wir nicht auf die antiken Traditionen verzichten.

An dieser Stelle fühlen wir uns herausgefordert und fragen nach: Wie aber kann man diese Traditionen wirksam machen für praktisches, ethisch fundiertes Handeln in der Gegenwart? Die antike Philosophie setzte sich mit dem Zusammenhang von Theorie und ihrer praktischen Anwendung in der Lebenswelt auseinander, um daraus eine allgemeinverbindliche Ethik zu gewinnen. In der Moderne werden theoretische Erkenntnisse jedoch sofort in technische Praxis überführt, mit oft furchtbaren Folgen für die Menschen. Denken Sie an Giftgas oder die Atombombe. Warum gelingt es dem modernen Mensch immer weniger, die Folgen seines Handelns zu bedenken?"

Gadamer: "Sie sprechen mir vollkommen aus dem Herzen. Diese bestürzende Entwicklung habe ich ständig vor Augen. Wenn sie sich bewahrheiten sollte, dann würde die Weltgeschichte zu Ende gehen. Dazu bedarf es nur des Ubergangs von einem kalten in einen heißen Krieg. Danach wäre diese Erde nicht mehr bewohnbar. Ohne Ethik werden wir also nicht überleben. Die christliche Kirche hat es unglücklicherweise nicht erreicht, die Renaissance mit ihren Erkenntnisfortschritten angemessen in ihr Weltbild zu integrieren."

"Gehört die Selbstüberschreitung des Menschen, seine Hybris, nicht zur anthropologischen Grundausstattung?"

Gadamer: "Es gibt auch andere Kennzeichnungen für den Menschen. Er ist auch ein lernfähiges Wesen. Wir müssen lernen, miteinander zu leben. Ich bin diesbezüglich kein Phantast, aber ich glaube, daß man mit allen Religionen zusammen in Hochachtung leben könnte."

"Sie halten also nichts von einem synthetischen ,Weltethos', wie es Hans Küng entwickelt hat?"

Gadamer: "Nein, so weit würde ich nicht gehen. Es mißfällt mir ungeheuer, daß er das zu einem derartigen Universalsystem entwickeln möchte. Wir müssen uns eingestehen, daß wir alle nichts wissen."

"Woher rührt Ihre Hoffnung, daß die Philosophie den Mächten der Mobilisierung, dem Wahn der technischen Machbarkeit eines Tages in den Arm fallen könnte?"

Gadamer: "Es ist die Angst vor dem Tod, vor dem Untergang, die zur Umkehr zwingt. Ich erinnere bei Gesprächen über dieses Thema immer gerne an Aischylos und Prometheus. An das Wissen von der eigenen Endlichkeit und die Unfähigkeit des Menschen, über sie zu verfügen. Heute meint man jedoch, wissen zu können, wann die Uhr abgelaufen ist. Irgendein Forscher hat jetzt eine Statistik entwickelt, mit der man das Jahr ermitteln kann, in dem man stirbt. Das ist das Neueste. Von mitreißender Komik, wie ich finde."

"Entspricht diese Haltung jenem ’letzten Menschen", wie ihn Nietzsche beschrieben hat? Einem ganz und gar unhistorischen, nur im Augenblick lebenden Wesen ohne Metaphysik und Transzendenzverlangen?"

Gadamer: "Durchaus. Dieser letzte Mensch darf nur nicht sterben..."

Schließlich, nach drei Stunden Gespräch – zwei Flaschen sind geleert und der Aufbruch zum Abendessen steht bevor – bitten wir Hans-Georg Gadamer um eine Beschreibung seines Tagesablaufs. Er sei, anders als der Soldat und Abenteurer Ernst Jünger, ein wenig spektakulärer Mensch, ein deutscher Professor eben. Man habe ihn in den Orden Pour Le Mérite gewählt, Jünger aber nicht, obwohl er sich für ihn eingesetzt habe. Er sei immer der Meinung gewesen, daß dem Autor von "In Stahlgewittern" und so vieler philosophisch bedeutsamer Werke nicht nur der militärische Orden, sondern auch die wissenschaftliche Auszeichnung zustünde.

Zum Tagesablauf? "lch höre die Katze schreien und sage mir: Jetzt mußt du aber aufstehen. Wenn ich sehr müde bin, schlafe ich trotz des Geschreis wieder ein. Ich bin ein sehr guter Schläfer, aber ich träume wenig. Meist langweiliges Zeug: daß ich eine Verabredung verpaßt oder einen Zug versäumt habe."

Nach dem Frühstück ziehe er sich in sein Arbeitszimmer zurück, das zum Garten hinaus liegt. Auf dem Tisch seien Gebirge von Papieren aufgetürmt, darunter auch die Briefe, die ihm Heidegger geschrieben habe. Nach ihnen suche er seit langem vergeblich. "lch befürchte immer mehr, daß die Katze den Packen vom Tisch und in den Papierkorb gefegt hat. Ich bin ja eigentlich ein schlechter Versorger von Papierkörben. Ganz anders Heidegger! Ihm fiel so viel ein, daß er alles, was ihm nicht gefiel, sogleich wegwarf."

"Zeuge des Jahrhunderts zu sein ist eine große Last"

Schreibt er noch immer täglich? Gadamer: "Beim Hinausschauen aus dem Fenster sammle ich meine Gedanken, dann wird gearbeitet. Oft reißt mich das Telefon heraus, das ist jetzt viel schlimmer geworden als früher. Zeuge des Jahrhunderts zu sein ist eine große Last. Meine Arbeitszeiten sind sehr unterschiedlich. Oft vergeht die Zeit wie im Fluge, bis zu sechs Stunden. Manchmal arbeite ich bis tief in die Nacht hinein. Die meiste Zeit benötige ich für die Suche nach Verlorenem, der Trost dabei ist, daß ich dabei so manches verloren Geglaubte wiederfinde. Einen wirklich geordneten Tagesablauf gibt es für mich nicht. Die Mahlzeiten werden variabel gehandhabt. Meine Frau ist viel unterwegs, ich bin also oft allein."

Im Wohnzimmer steht ein etwas ältliches Fernsehgerät. Findet der fast Hundertjährige Zeit zum Fernsehen? Nein, der Fernseher spiele für ihn keine Rolle. An das Ende unseres Gesprächs plaziert Gadamer eine hübsche Anekdote, als wolle er bekräftigen, daß man die moderne Lebenswelt doch nicht so wichtig zu nehmen brauche: "Amerika habe ich, was das Fernsehen angeht, eine besondere Erfahrung gemacht. Eines abends gab es dort eine politische Sendung, die ich mir ansah. Ich war aber so müde, daß ich rasch einschlief. Die anderen Zuhörer hatten längst den Raum verlassen, als ich aufwachte. Der Kasten lief noch. Ich hatte keine Ahnung, wie man das Gerät abstellt; schließlich habe ich es aufgegeben und ein Schlafmittel genommen. Daran sehen Sie mein Verhältnis zur Technik."

 

Heimo Schwilk, 47, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Tübingen. Heute ist er Chefkorrespondent der "Welt am Sonntag". Im Dezember 1999 führte er zusammen mit Günter Figal für seine Zeitung ein Exklusiv-Interview mit Hans-Georg Gadamer. Zur Zeit schreibt Heimo Schwilk an einer Biographie Ernst Jüngers.


 
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