© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
Hans-Jürgen Eitner: Kolberg. Ein preußischer Mythos 1807/1945
Fast alle Zivilisten wurden gerettet
Doris Neujahr

Die kleine pommersche Ostseestadt Kolberg widerstand im Sommer 1807 der Belagerung durch napoleonische Truppen. Die preußisch-deutsche Geschichtsschreibung formte daraus den Mythos eigener Unbesiegbarkeit durch die Einheit von Thron und Volk, Staat und Militär. Daß letztlich nur der Friedensvertrag von Tilsit, den Frankreich und Rußland am 9. Juli 1807 schlossen, Kolberg vor der Einnahme durch die Franzosen bewahrte, fiel unter den Tisch.

Zur letzten und dramatischsten Anrufung des Kolberger Heldenmythos wurde Veit Harlans Durchhaltefilm "Kolberg" (1944/45). Der im Auftrag Goebbels’ entstandene Streifen wurde von den Alliierten verboten und jahrzehntelang nur in Einzelvorführungen und in bearbeiteter Fassung gezeigt. Erst 1998 wurde die Originalfassung im elitären Fernsehsender ARTE ausgestrahlt.

Der Buchautor Hans-Jürgen Eitner, Jahrgang 1925, ein gebürtiger Kolberger, der seit den achtziger Jahren zeitgeschichtliche Studien publiziert, hat versucht, Entstehung, Gehalt, Wirkung und Pervertierung des Kolberg-Mythos im preußisch-deutschen und europäischen Kontext zu analysieren. Sein in neun übersichtliche Kapitel gegliedertes Buch "Kolberg" will auch eine Erzählung vom Untergang des deutschen Ostens sein, welche die Dramatik des Vorgangs weder verharmlost, noch die nationalsozialistische Vorgeschichte ignoriert. Völlig zu Recht stellt er fest: "In Büchern über die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, oft verklärte Heimatkunde, wird fast immer die NS-Zeit ausgeblendet."

Das hat mehrere Gründe: Zum einen hat das Vertreibungstrauma zunächst eine nüchterne Analyse der eigenen Regionalgeschichte verstellt. Das, was verloren war, wurde in der Erinnerung zum verklärten Fetisch. Später, nach 1968, als die "Vergangenheitsbewältigung" en vogue wurde, hätte eine kritische Reflexion der lokalen NS-Geschichte möglicherweise wie eine Bestätigung der weitverbreiteten Schuldtheologie – der Verlust der Ostgebiete als Strafe für Hitler – gewirkt. Drittens waren nicht wenige, die nach dem Krieg in den zuständigen Heimatkreisverbänden der Vertriebenen führende Positionen und die Definitionsmacht übernahmen, selber in die nationalsozialistische Bewegung involviert gewesen, was sie lieber mit dem Schleier des Vergessens bedecken wollten.

Bei der Darstellung der Kriegsereignisse konnte Eitner sich – was er im Vorwort leider unerwähnt läßt – auf eine solide Vorarbeit stützen, auf das Buch "Die letzten Tage von Kolberg" (Würzburg 1959) von Johannes Völker. Völker hatte auch dargestellt, daß Kolberg sich bereits einmal im Dreißigjährigen Krieg und weitere dreimal während des Siebenjährigen Krieges schweren Belagerungen zu erwehren hatte. Zuletzt, 1761, mußte es vor russischen Truppen kapitulieren.

Vor allem die Schilderung der napoleonischen Belagerung 1807 und der Kriegshandlungen 1945 hat Eitner durch eigene militärgeschichtliche Studien wesentlich erweitert. Er stellte klar, daß dem Festungskommandanten von 1807, Loucadou, zu Unrecht die Rolle des Bösewichts oder Feiglings im Kolberg-Mythos zugewiesen wird, während der Bürgervorsteher Joachim Nettelbeck – der gemeinsam mit Gneisenau und Schill den Heldenpart spielt –, einen übertriebenen Glorienschein trägt. 1945 wurde Kolberg nicht zur "Festung", sondern lediglich zum "Festen Platz" erklärt. Funktionsfähige Festungsanlagen gab es hier – laut Völker – seit 1873 nicht mehr. Lediglich 3.300 deutsche Soldaten und Volkssturm-Angehörige standen einer erdrückenden russisch-polnischen Übermacht gegenüber. Russen und Polen machten sich später den Kolberg-Mythos ebenfalls zunutze und übertrieben die militärischen Stärke der deutschen Seite um ein Vielfaches, um die Bedeutung ihres Sieg zu erhöhen.

Heute wird der militärische Widerstand gegenüber der Roten Armee 1945 im Osten leichthin als "sinnlos" dargestellt. Diese Einschätzung gilt freilich nur, wenn die Chimäre des "Endsiegs" zum Maßstab genommen wird. Doch darum ging es den Militärs und den Zivilisten vor Ort längst nicht mehr.

In Kolberg hielten sich zum Zeitpunkt der endgültigen Einschließung am 4. März 1945 noch 70.000 bis 80.000 Einwohner und Flüchtlinge auf, die verzweifelt auf den Abtransport über die Ostsee warteten. Wehrmacht und Volkssturm gelang es, den Brückenkopf Kolberg so lange zu halten, bis ihre Einschiffung erfolgt war. Die Rote Armee hatte den Kommandanten Oberst Fullriede zweimal zur Kapitulation aufgefordert und dabei zwar den Militärangehörigen, nicht aber den Zivilisten humane Behandlung versprochen. Tatsächlich konnten bis zur Aufgabe Kolbergs am 18. März fast alle Zivilisten gerettet werden, die andernfalls wohl in die sibirische Eishölle abtransportiert worden wären. Eitner würdigt die "beispiellose Leistung" der deutschen Handels- und Kriegsmarine, die – von Kolberg und anderswo – Millionen Menschen nach Westen verschiffte. Es ist eine spannende Frage, in welcher Weise sich die Erinnerungskultur in Deutschland im neuen Jahrhundert ihrer annehmen wird. Die jüngsten Greuelberichte aus Tschetschenien werden die nötigen Denkprozesse hoffentlich beschleunigen.

Entgegen seiner Ankündigung sind Eitners Schilderungen über die NS-Zeit in Kolberg spärlich und konventionell. Über die Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945 erfährt man fast nichts, über den NSDAP-Kreisleiter Anton Gerriets, der in der sterbenden Stadt eine üble Rolle spielte, kaum mehr als die dürren Angaben, die in den Personalakten des Berliner Document Centers enthalten sind. Eitner schreibt: "Am 1. Juni 1928 tritt Gerriets in die NSDAP ein. Er ist demnach kein Karrierist, sondern verschreibt sich schon früh aus Überzeugung der Hitler-Bewegung." Ja, und? Über sein Wirken in Kolberg ist damit überhaupt nichts gesagt. Gewiß, die Quellenlage ist schwierig, und Zeitzeugen – auch bei Eitner klingt das deutlich an – sind wild entschlossen, ihr Wissen mit ins Grab zu nehmen. Doch eine gründlichere Recherche, etwa in der Gau- und Lokalpresse, hätte Abhilfe schaffen können.

Das Buch ist durchaus informativ und lesenswert, aber keinesfalls das große Geschichtswerk, das der Verfasser sich vorgenommen hatte. Auffallend sind orthographische Fehler und eklatante sprachliche Unzulänglichkeiten. Fußnoten und Quellenverweise fehlen fast völlig, wodurch das Buch für den wissenschaftlichen Gebrauch nur bedingt nutzbar ist. Eitner erwähnt die Popularität der Nettelbeck-Memoiren, kann aber nicht darlegen, inwieweit der Kolberg-Mythos – etwa auf der Bühne, im Gedicht, in Erzählungen und populären Buchausgaben – transformiert und tatsächlich lebendig gehalten wurde.

Wissenschaftlich befindet es sich längst nicht auf aktuellem Stand. So zitiert Eitner brav aus dem Standardbuch des Wahlforschers Jürgen Falter "Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik" (1986) – in dem er freilich keine Angaben über Kolberg findet. Ihm ist entgangen, daß es längst eine – von Falter initiierte – Datenbank mit den "Wahl- und Sozialdaten der Kreise und Gemeinden des Deutschen Reiches 1920-1933" gibt, die auch detaillierte Angaben über Hinterpommern enthält. Die Idee, den Fall von Kolberg nicht im Wehrmachtsbericht zu erwähnen, stammt nicht von Adolf Hitler, sondern von Joseph Goebbels, wie dessen Tagebucheintrag vom 19. März 1945 belegt. Seine Analyse des "Kolberg"-Films enthält nichts Neues.

Charakteristisch für den uneingelösten Anspruch des Buches ist die vollmundige Ankündigung im Vorwort: "Wie konnte nur zwanzig Jahre nach dem Tode Friedrich des Großen sein Werk Preußen untergehen? (... ) Der Verfasser wagt eine Antwort."

Doch am Ende läuft er nur offene Scheunentore ein. Denn daß der nachfriderizianische Staat morsch und ausgehöhlt war, daß die lineare Angriffstaktik seiner Feudalarmee neben dem militärischen auch einen gesellschaftlichen Anachronismus darstellte und – wie sich 1806 bei Jena und Auerstedt zeigen sollte – dem modernen Tirailleursystem des französischen Heeres hoffnungslos unterlegen war, ist nun wirklich keine Neuigkeit.

Bemerkenswert sind die historischen Fotos, die die Panik in der eingeschlossenen Stadt und ihre Zerstörung abbilden.

 

Hans-Jürgen Eitner: Kolberg. Ein preußischer Mythos 1807/1945. edition q in der Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin 1999, 33 s/w-Abb., 240 Seiten, 34 Mark


 
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