© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Europa und die Dekadenz: Der Historiker Alexander Demandt über die Zukunft unseres Kontinents
"Die Kulturen vermischen sich"
von Stefan Lorenz

Herr Professor Demandt, in Ihrem gerade im Siedler Verlag erschienenen neuen Buch befassen Sie sich eingehend mit der fälschlich als "Vandalismus" bezeichneten Kulturfeindlichkeit in der Geschichte. Die "FAZ" nannte sie kürzlich sogar einen "Niedergangsspezialisten". Faszinieren Sie Dekadenzerscheinungen?

DEMANDT:Dekadenzerscheinungen sind faszinierend, wenn wir sie als Untergangsvorgang betrachten und dabei bedenken, daß Untergang immer gleichzeitig ein Übergang ist. Wenn in der Geschichte etwas aufhört, fängt gleichzeitig auch etwas an. In der Regel bezeichnen wir solche Zeiten als Krisenzeiten, und diese Krisenzeiten sind solche, in denen sehr viel passiert und die deswegen für den Historiker allgemein von besonderem Interesse sind.

Woran erkennt man eigentlich Dekadenz?

DEMANDT:Dekadenz ist primär ein Bewußtseinsphänomen, das man daran erkennt, daß alle darüber reden und alle darüber klagen. Wir haben in der römischen Geschichte das Gejammere über den Niedergang, über den Sittenverfall schon in der Republik. Der ältere Cato war schon der Meinung, daß es mit Rom bergab gehe. Dahinter verbirgt sich möglicherweise eine erkennbare Verstädterung, die vor allem bei der Oberschicht zu einem gewissen Luxusleben führte, und damit hat man in der Antike immer wieder den Niedergang der militärischen Stärke verbunden. Dekadenz erkennt man im Ökonomischen daran, daß ein Land immer ärmer wird, und im Militärischen, wenn es nicht mehr in der Lage ist, sich seiner Grenzen zu erwehren. Das ist ein Phänomen, das aber in Rom im Grunde erst ab dem 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus feststellbar ist. Bis dahin sind alle Dekadenzklagen in der Sache schwer zu begründen.

Gibt es nicht auch geistige Grundlagen für eine solche mangelnde Verteidigungsbereitschaft?

DEMANDT:Natürlich. Die berühmteste und bekannteste ist das Christentum, das den Frieden auf Erden gepredigt hat und gesagt hat: "Stecke dein Schwert in die Scheide; du sollst deine Feinde lieben; die Rache ist mein, spricht der Herr." Die Christen haben in ihrer Frühzeit, solange sie ihren Glauben ernst genommen haben, sich geweigert, zu den Waffen zu greifen, wenn sie bedroht waren.

Leben wir heute in einer Zeit des Niedergangs?

DEMANDT:Wenn man die Finanzexperten hört, ist es der Fall: immer mehr Arbeitslose, immer mehr Kriminalität, immer reichere Reiche, die Klagen hören ja nicht auf, man muß nur die Zeitungen aufschlagen; die Leute sind unzufrieden. Der Begriff der Dekadenz, der Degeneration wird aber in der Regel vermieden. Soweit ich sehe, ist in der Publizistik von diesem Phänomen, von diesem Begriff nur spärlich Gebrauch gemacht worden. Es sind im wesentlichen Positionen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und die gewissermaßen den Verlust der sogenannten alteuropäischen Werte beklagen, die Auflösung der Familienstrukturen, das Dahinschwinden der preußischen Tugenden, ein wachsender Geschäftssinn, ein zunehmendes Luxusbedürfnis und ähnliche Dinge, das sind so die Klischees, mit denen die Dekadenzpropheten ihre Lehre vertreten.

Welches Weltreich geht denn nun unter? Etwa das "Abendland"? Oder ist dies möglicherweise schon längst untergegangen?

DEMANDT:Das Abendland ist kein Weltreich, ist nie ein Weltreich gewesen und wird auch nie eines werden. Das zukünftige Europa ist mir nur vorstellbar als föderatives staatliches Gebilde, und ihm wird das fehlen, was zu einem Imperium gehört: ein Imperator. Ein Weltreich ist ein zentralistisch organisiertes Vielvölkergebilde. Die vielen Völker haben wir in Europa, aber irgend etwas mit dem Sowjetimperium, dem römischen Imperium, dem spanischen Imperium oder dem britischen Imperium Vergleichbares ist meines Erachtens in Europa in den nächsten dreihundert Jahren nicht zu erwarten.

In dem von Ihnen herausgegebenen und mitverfaßten Buch "Das Ende der Weltreiche" schreiben Sie, daß vielfach aus der Staatsangehörigkeit erst die Volkszugehörigkeit" erwachse. Wird es also den "Europäer" im Rahmen der EU infolge eines evolutionären Prozesses irgendwann zwangsläufig, automatisch geben?

DEMANDT:Zwangsläufig und automatisch ist nichts in der Geschichte. Aber daß der Begriff des Europäers im Bewußtsein eine zunehmende Rolle spielt, ist mir ohne weiteres vorstellbar. Wir haben im Kleinen, in Deutschland, diesen Prozeß ja erlebt, und zwar während der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert. Ich erinnere mich an Theodor Mommsen in Rom, der sich selber als Deutscher betrachtete, von den Italienern aber als Preuße bezeichnet wurde. Im 19. Jahrhundert wurden aus den Bayern, den Preußen, den Schwaben, den Niedersachsen zunehmend Deutsche, und so ist es denkbar, daß eben aus Franzosen, Italienern, Deutschen in Zukunft Europäer werden.

Ihr Kollege Christian Meier vertritt die Auffassung, man müsse sich über die Notwendigkeit der klassischen Nationalstaaten neu verständigen. Er meint, daß Demokratie ohne die Existenz von Nationalstaaten unmöglich sei. Bedeutet die Abschaffung der Nationalstaaten also auch eine Abschaffung der Demokratie?

DEMANDT:Das ist natürlich eine Begriffsspielerei von meinem Kollegen Meier, der mit dem Begriff des Demos kokettiert. Sie können keine Demokratie ohne einen Demos machen, keine Volksherrschaft ohne ein Volk, und von daher ist die Demokratie natürlich an die Entstehung von Völkern gebunden. Wie man die Völker dann definiert und wie man Volk von Nation unterscheidet, ist eine andere Frage. Aber natürlich brauchen Sie für eine Demokratie auch ein Volk, und das große Problem Europas ist es ja:

Erscheint Ihnen der Kosmopolitismus als ein erstrebenswertes Ziel?

DEMANDT:Ich verehre den Kaiser Marc Aurel, der die Menschengesellschaft mit einem großen Baum verglich, wo die einzelnen Völker, die einzelnen Städte Blätter und Äste sind. Man kann sie unterscheiden, sie haben ein gewisses Eigenleben, eine eigene Form, kein Blatt ist wie das andere, und trotzdem ist das Ganze eine organische Einheit. Und so stelle ich mir auch die Weltgesellschaft vor.

Wenden Sie sich also gegen Huntingtons These vom Kampf der Kulturen?

DEMANDT:Das, glaube ich , kann man nicht so ohne weiteres behaupten. "Clash" bedeutet ja ein Zusammenstoßen weitesten Sinnes, und von daher glaube ich an Weltkriege, so wie Huntington dies prognostiziert, zunächst gegen den Islam und dann gegen Fernost, nicht. Es gibt natürlich Friktionen und vor allem solche, die auch in Nationalitäten und nationalen Identitäten begründet sind. Das bleibt auf der Tagesordnung, wird aber für die großen Staaten eher ein Binnenproblem werden, ein Problem für die Polizei und kein Problem für das Militär.

Wie wird dieses zukünftige Europa sich auf die Kultur auswirken? In der Romantik meinte man, Kultur sei ein Produkt von Völkern, von "Volksgeistern", einmalig und unverwechselbar. Würde nicht das Aufgehen der einzelnen europäischen Völker in einem neuen, aus unserer heutigen Sichtweise eher als künstlich zu bezeichnenden "Europa-Volk" das Ende der Kultur bedeuten und damit auch das Ende der Geschichte?

DEMANDT:Das Verhältnis von Völkern und Kulturen ist ambivalent. Ich glaube, die romantische Sicht ist da einseitig. Daß bestehende Völker sich nachträglich eine Kultur zulegen, ist nur die eine Seite. Man kann genausogut sagen, daß die Schaffung einer Kultur die Entstehung eines Volkes zur Folge hat. Volk und Kultur sind zwei Begriffe, die parallel entstehen und auch parallel verschwinden. Von daher ist natürlich mit jeder Veränderung im ethnischen Bereich auch eine Veränderung im kulturellen Bereich zu beobachten, das geht parallel, wobei man heute einfach zwei Tendenzen feststellen kann, die beide sehr alt sind. Das eine ist eine zunehmende Vermischung von Kulturen. Man muß sich nur einmal in die Warenhäuser begeben: Sie können heute in Berlin chinesisch, vietnamesisch, italienisch und griechisch essen, Sie müssen nicht mehr in die Länder fahren: all dies wird Ihnen hier und heute geboten. Auf der anderen Seite erkennt man auch eine gewisse Regionalisierung Europas. Die Regionen gewinnen ein gewisses Selbstbewußsein, einen gewissen Eigenstolz, und der wird sich, wie ich vermute, überwiegend auf dem kulturellen Sektor austoben, denn im ökonomischen, im politischen und juristischen Bereich ist die Unifizierung, ist die Vereinheitlichung Europas unaufhaltsam.


 
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