© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/97 05. Juni 1997 |
||||
Der Geist der chinesischen Geschichte von Wolfgang Lasars Wie denkt ein chinesischer Konservativer? Der platte Materialismus, der an die Stelle der MaoIdeologie getreten ist, hat nicht nur Produktion und Handel sondern auch Gewaltkriminalität, Korruption und Prostitution sprunghaft wachsen lassen. Die von der kommunistischen Partei Chinas propagierte geistige Leere wird nicht ewig währen. Früher oder später werden sich geistig hungrige Chinesen der geistigen Traditionen ihres Volkes, immerhin des größten Volkes auf Erden, erinnern. Welche Argumente können wir dann erwarten? Einer der bedeutendsten Denker des heutigen China ist Qian Mu. Er gehört zu den letzten traditionellkonfuzianischen Gelehrten. Der Zusammenfassung seiner Sorgen, Erkenntnisse und Vorschläge gab er den Titel "Der Geist der chinesischen Geschichte". Das Werk stammt aus dem Jahre 1951. "Haben unser Land und unser Volk noch eine Zukunft?" In seiner Kindheit, Anfang dieses Jahrhunderts, war dies, damit beginnt Qian Mu, die wichtigste, politische Sorge des chinesischen Volkes. Alles andere war nachrangig. Die Angst, daß China bald von westlichen Mächten aufgeteilt werde, saß tief. Die Erinnerung an die damalige Schmach, Angst und Not ist bis heute im chinesischen Volk lebendig. Blicken wir deshalb kurz zurück: Im OpiumKrieg der Jahre 1840 bis 1842 erzwang die britische Krone vom chinesischen Kaiser die Öffnung von fünf Häfen und die Abtretung Hongkongs. Zuvor hatte ein kaiserlicher Kommissar die Vernichtung britischer Opiumvorräte in Kanton durchgesetzt, weil die massiven Opiumexporte der britischen Ostindischen Kompanie zu einer katastrophalen Opiumsucht im chinesischen Volk geführt hatte. Das Zeitalter der demütigenden, ungleichen Verträge begann. Verlorene Kriege, Bürgerkrieg und Hungertod trieben viele Chinesen an den Rand der Verzweiflung. Wider Mutlosigkeit und Pessimismus erklärte Qian Mu: "Ich denke, daß China nicht nur nicht untergehen wird, ich glaube fest, daß unser Volk noch eine großartige, leuchtende Zukunft vor sich hat." Was ließ Qian Mu so optimistisch denken? Neben patriotischen und nationalen Gefühlen wie er zugab stützte er sich auf die chinesische Geschichte. "Wer etwas über das Morgen wissen will, muß erst das Gestern kennen." Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht seiner Überzeugung nach zunächst darin, in der Gegenwart Fragen und Probleme zu formulieren. Dann untersuche sie die Erfahrungen der Vorfahren und ermittle ihre Bedeutung und ihren Wert für die Zeitgenossen. Die Erfahrungen der Vorfahren könnten auf diese Weise von der Nachwelt als Wegweiser genutzt werden. Zahlreiche moderne Intellektuelle, so beklagte Qian Mu, gäben Konfuzius die Schuld an der Erschütterung Chinas und propagierten eine vollständige Verwestlichung. In Anbetracht des tatsächlich katastrophalen Zustandes von China könne man allenfalls sagen, das heutige China sei krank, kulturell krank. Wo es Leben gäbe, gäbe es auch Krankheit, da müsse man heilen. Man dürfe nicht sagen: Du bist krank, weil du lebst, um dich von der Krankheit zu befreien, muß ich dir das Leben nehmen. Qian Mu ermahnte seine Landsleute: "Wir müssen wissen: Wenn ein Staat vernichtet werden soll, ist zunächst seine Geschichte zu beseitigen." Ein Zeitabschnitt der Geschichte ist, so Qian Mu, nie wie ein Zeitabschnitt in den Naturwissenschaften, wo Zeitabschnitte in Versuchen isoliert betrachtet werden. In der Geschichte sind Zeitabschnitte verbunden. Das Verbindende von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war für Qian Mu das Geistige. Ein Menschenleben habe eine natürliche Grenze, 80 bis 100 Jahre. Ein Land, ein Volk hingegen könnten tausende von Jahren leben, dies sei ein Leben der Kultur, der Geschichte. Der Begriff "Volk" bezeichne somit auch nicht einen natürlichen Gegenstand. In der Natur gibt es die Menschheit, aber keine Völker. "Volk" sei etwas Geistiges. Der völkische Geist ist, so Qian Mu, eine Verbindung von Menschen und Kulturbewußtsein. Dieser Geist sei ein Geist der Kultur, ein Geist der Geschichte. Nur der Geist der chinesischen Geschichte und Kultur hätte das in der Welt älteste und großartigste Volk, die Chinesen, hervorbringen können. Seit etwa 200 Jahren führe der Westen die Welt, die europäische Kultur beherrsche die
Welt. Aber man dürfe nicht annehmen, daß der Westen die Welt ewig regieren werde. Statt
vom Westen zu lernen, sollten Chinesen zu ihrem Geist finden und fühlen, daß sie
Chinesen sind. Qian Mu warnte: Wenn die Kultur eines Volkes ausgelöscht wird, hat es
aufgehört zu existieren. Wollen wir das Leben des Volkes sichern, müssen wir seine
Kultur am Leben erhalten. Die Wiederbelebung des Wissens von der chinesischen Geschichte,
das sei die Wiederbelebung des chinesischen Volksgeistes, das sei die Wiederbelebung der
traditionellen chinesischen Kultur. Zu dem Zeitpunkt erst werde China wahrhaft unabhängig
und eigenständig sein. "Den Geist der Geschichte zu verbreiten, ist das Gebot der
Stunde." Die unterschiedliche Staatsentwicklung im Westen und in China zeige, so Qian Mu, den
besonderen Wert des Geistes der chinesischen Geschichte. Noch nach dem Mittelalter
bestanden in Europa die damaligen Regierungen nur aus Adligen, so daß die bürgerlichen
Mittelschichten um eine Regierungsbeteiligung kämpfen mußten. Im alten China hingegen
gab es eine lange Tradition, nichtadlige Bürger direkt an der Regierung zu beteiligen.
Seit alters her gab es in China ein offenes Prüfungs und Auswahlsystem, an dem sich jeder
beteiligen konnte. Bei Bestehen der Prüfungen konnte jeder Bürger Regierungsbeamter
werden. Die Ablehnung einer GottesReligion erläutert Qian Mu anhand eines in der Tat fundamentalen Unterschieds von Christentum und Konfuzianismus: Im Christentum können Gläubige niemals Gott oder Jesus werden, auch wenn sie noch so fromm sind. Dem entgegengesetzt sagt der Konfuzianismus: "Jeder Mensch kann Yao Shun werden." Der Legende nach waren in uralter Zeit TangYao und YuShun vom Volk bestimmte Führer, deren heilige Tugend sich im Verzicht auf den Thron zugunsten anderer zeigte. Im Konfuzianismus verkörpert Yao Shun das höchste Ideal eines tugendhaften Herrschers. Zusätzlich verwies Qian Mu auf den Buddhismus, der vergleichbar sagt: "Jeder Mensch kann ein Buddha werden." Deswegen konnten Chinesen auch den Buddhismus akzeptieren und annehmen. Chinesen achten den Rechten Weg (dao) als alles überragend. Nach klassischchinesischem
Verständnis sei der Rechte Weg die geistige Grundlage für eine stabile Gesellschaft. Der
Rechte Weg weise auf die Menschenwürde im konfuzianischen Sinne und den Geist der Tugend.
Dieser Geist der Tugend sei ein von Chinesen in ihrem Innersten angestrebtes Ideal, wie
man sich als Mensch (als Humanum) verhalten solle. Er beinhalte eine ideale charakterliche
Würde, welche Chinesen aktiv in dieser Welt, in dieser Gesellschaft, zu erreichen suchen.
"Weil tugendhafte Heiligkeit eine Art charakterliche Würde ist, kann sie jeder
Mensch erreichen, praktizieren." Die Würde des Menschen zeige sich konkret in seinem
tugendhaften Charakter. Qian Mu wurde 1894 in der ostchinesischen Küstenprovinz Jiangsu geboren. Mit 18 Jahren
begann er als Schullehrer, vertiefte sein Wissen im Selbststudium und veröffentlichte
erste Bücher. Seine Kritik an dem bekannten chinesischen Reformer Kang Youwei erregte
1920 in der Hauptstadt Peking große Aufmerksamkeit. Er wurde als Universitätsdozent nach
Peking berufen, wo er seine Vorlesungen über chinesische Geschichte aufnahm. 1937 floh er
wegen des antijapanischen Widerstandskrieges nach Südchina und im folgenden chinesischen
Bürgerkrieg 1949 nach Hongkong. 1955 verlieh ihm die Hongkong Universität die
Ehrendoktorwürde. Nach Vortragstätigkeiten in den USA und Malaysia übersiedelte er 1967
nach Taiwan. Dort wurde er Mitglied der Academia Sinica und lehrte als Professor an der
Universität der chinesischen Kultur. Im hohen Alter von 96 Jahren verstarb Qian Mu 1990
in Taipeh. |