© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Jahrhundertgeschäft: Das "Unwort des Jahres" läßt die Kassen klingeln
Millenniums-Knaller
Gerlinde Redwitz

"Millennium"! Wenn bald mal wieder das "Unwort des Jahres" gekürt wird, dann gewinnt das Jahreswechsel-Pseudonoym hoffentlich gegen "Knallerbenstrauch" und "Maschendrahtzaun". Denn seit "Sonnenfinsternis" (Sofi), "Kernschatten" und "Korona" ist kaum ein Wort mehr in aller Munde.

Egal ob Grundschüler, Diplom-Pädagoge, Hausfrau oder Kanalarbeiter, alle wissen vom "Millennium" zu berichten, jeder weiß etwas, alle feiern die "Mega-Fete" – egal ob mit oder ohne Pro Sieben. In S-Bahnen, Talkshows und Wartezimmern werden eifrig "Millenniums-Pläne ausgetauscht. Was machen die Deutschen am 31. Dezember 1999 um 0:00 Uhr? An Möglichkeiten mangelt es wahrlich nicht, denn wir Deutschen sind zwar etwas verklemmt, aber grundsätzlich haben wir nichts dagegen, in großen Menschengruppen Alkohol zu trinken und bewundernd "Ohhhh!" zu sagen, wenn über unseren Köpfen Feuerwerkskörper eindrucksvoll zerbersten.

Wohin also? Was tun am Millennium? Wer gar keine Phantasie hat, macht es sich besonders einfach. Er fährt nach Berlin, Nürnberg, Düsseldorf und erlebt dort Menschenansammlungen mit ähnlich Phantasielosen. Um 24 Uhr fällt man sich um den Hals, und um halb eins packt man die letzte "Henkel Trocken" aus dem Rucksack und prostet mit ihr aufgeregt umher. Selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, daß nicht einer der vielen Wahnsinnigen an diesem Tag genau an einem solchen Ort seine in liebvoller Heimarbeit selbsgebastelte Bombe hochjagt, um auf die ökologisch problematische Situation der Eskimos aufmerksam zu machen. Oder auch die Araber im Gaza-Streifen meckern rum, und die Kurden hören mit dem Nörgeln gar nicht mehr auf. Gründe für medienwirksame Gemetzel gäbe es jedenfalls genug.

In Berlin vor dem Brandenburger Tor soll übrigens die Teilnehmerzahl begrenzt werden, denn der Manager des direkt angrenzenden Hotels "Adlon" hat keinen Bock darauf, seine Luxusherberge in ein "Feldlazarett" umwandeln zu müssen. Das verstehen wir alle.

Genau deshalb hat auch eine seit Ende des Kalten Krieges etwas stiefmütterlich behandelte Branche Hochkonjunktur: die Katastrophen-Profiteure. Bis 1989 ging das Bunkergeschäft noch gar nicht schlecht, jeder brauchte den Essensvorrat für den Nuklearkonflikt und handbetriebene Waschtrommeln waren einfach ein muß für jeden harmonischen Nato-Haushalt. Heute glänzen wieder "autarke" Haushalte in Boulevard-Magazinen – das Millennium ist kein Grund zu feiern, sondern um wachsam zu sein. Ein Amerikaner geht aufs ganze. Speziell dem bevorstehenden Welt-Chaos zuliebe zieht er Stacheldraht um sein Haus und rüstet seine Familie inklusive Kinder mit Pumpguns aus. Wenn die Hungernden an seine Vorräte wollen, macht der Cowboy kurzen Prozeß, versichert er, indem er gleichzeitig Kautaback ausspuckt. Der Zuschauer ertappt sich dabei, wie er Gott dankt, nicht Lehrer eines der Kinder zu sein.

Für den etwas ausgebeulteren Geldbeutel gibt es das Millennium an sogenannten "besonderen Orten". Da gibt es zum Beispiel sämtliche Funk- und Fernsehtürme der Republik, wo übers Jahr nur Touristen zu sehen sind, denen der Mineralwasserpreis von über 5 Mark zu schaffen macht. Am 31. Dezember kann man dort für über 500 Mark schlemmen und hoffen, daß die computergesteuerten Aufzüge tatsächlich die Datumsumstellung heil überstehen.

Hardcore-Millennium-Freaks haben sogar die Möglichkeit, 24 Stunden am Stück Sylvester zu feiern. Sie steigen in das Flugzeug und surren damit exakt auf der Datumsgrenze entlang. Die Tatsache, daß Alkohol in 10.000 Meter Höhe gnadenlos stärker wirkt als auf dem Boden, läßt die Orgien dort oben nur erahnen. Und wenn’s da oben mit den Computern nicht wirklich funktionieren sollte – na, wir wollen den Teufel ja nicht an die Wand malen. Zur Sicherheit gibt es ja zig Flugzeugkatastrophenfilme aus den Siebzigern und Achtzigern, die uns zeigen, wie man sich in Extremsituationen zu verhalten hat. Ja, auch sinnvolle Dinge wurden in den letzen 100 Jahren vollbracht!

Millenniums-Angst haben die Israelis – zu Recht! Denn in letzter Zeit versammelten sich jede Menge Endzeitpropheten, Religionsgründer und reinkarnierte Erlöser in Jerusalem. Der plötzliche Bedarf an Psychotherapeuten ist da kaum mehr zu decken und längst ist das "Jerusalem-Syndrom" ein feststehender Begriff unter den Psychologen. Schwer zu vergessen ist hier das verzweifelte Gesicht eines israelischen Anstaltsbetreibers, dem in den letzten Wochen schon x-mal der "Messias" in Form von abgedrehten Wuppertaler Industriekaufmännern begegnet ist.

Auch – so erfahren wir über RTL – ist der Weltuntergang im Millennium für diejenigen die letzte Hoffnung, die schon zur Sonnenfinsternis am 13. August mit den Heerscharen der Finsternis rechneten und sich von sämtlichem Hab und Gut trennten. Denn der nächste Weltuntergangstermin läßt laut Informationen aus der internationalen Prophetenszene lange auf sich warten. Israel wird sich noch einige Zeit an den europäischen Aussteigern erfreuen dürfen, das steht fest.

"Sylvester feiern wie der Führer" – wer träumt nicht davon? Daß der Obersalzberg mit seinen Ruinen nicht mehr wirklich einladend wirkt, wissen die meisten. Doch sind auf einigen Bergstationen unserer Alpenschönheiten noch immer Partyplätze frei, wie zum Beispiel auf der Zugspitze. Auch dort oben kann man zum "Nobel-Preis" essen, trinken und feiern, und – um Mitternacht – seine Begleitung mit den Worten "Ähfah, 1000 Jahrrre sänd vorrrröber!" in den Arm nehmen.

Der diesjährige Jahreswechsel ist aber nicht nur etwas für gnadenlose Partylöwen, sondern auch für ausgebuffte Geschäftemacher. Wer dann arbeitet, kann sich auf einen Geldregen gefaßt machen. Einmal Babysitten wird für bis zu 600 Mark gehandelt, Kellnern wird auch lukrativ. Nur Taxen dürfen nicht mehr berechnen, dafür werden die Fahrer jeden Trick versuchen, um die besoffenen Sylvester-Clowns übers Ohr zu hauen. Und wer gerne pokert, fährt einfach selber – wieviele Ordnungshüter in dieser Schicksalsnacht tatsächlich unterwegs sind, weiß ja sowieso keiner.

Tatsächlich dürfte alles etwas ruhiger abgehen, als sich die Organisatoren der unzähligen Millenniumsfeten erhoffen. Denn die erotische Wissenschaftssendung auf Pro Sieben, "Liebe Sünde", klärte uns auf, daß jeder dritte Deutsche die Mega-Nacht im Bett verbringen wird. Nein, nicht schnarchend, sondern beim total hemmungslosen Giga-Millenniums-Sex! Und dann ist wieder Pause für mindestens tausend Jahre.

Bei all dem wagt man gerne den Schulterschluß mit dem x-fachen Weltenretter und Hollywood-Star Bruce Willis. Der Leinwandheld feiert die Jahrtausendwende, welche strenggenommen gar keine ist, ganz klein. Angesprochen auf den "Millenniums-Kommerz", das ganze Merchandising mit Millenniums-Mützen, -Brillen, -Unterhosen, -Parfüms fällte er das einzig wahre Werturteil: Bullshit!


 
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