© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Pankraz,
Biolek und der Kosmos, den man schmecken kann

In den Tagen vor Weihnachten überschlägt sich unsere moderne Koch- und Bratgesellschaft geradezu, auf allen Kanälen wird gekocht, gebraten und gebacken, daß einem buchstäblich Hören und Sehen vergeht und alles nur noch duftet und vor allem schmeckt. Es ist die Zeit der "chemischen Sinne", wie die Physiologen sagen, nämlich des Geruchssinns und des Geschmackssinns, der "Beifahrersinne", wie es manchmal auch heißt.

Speziell der Geschmackssinn ist ein typischer Beifahrer. Aus sich selbst verfügt er lediglich über armselige vier Nuancen: das Süße, das Saure, das Salzige und das Bittere. Alles andere, was wir zu "schmecken" glauben, sehen wir oder riechen wir in Wirklichkeit. Eine Speise, die exakt wie ein Dunghaufen aussieht, mag noch so köstlich "schmecken", wir werden uns dennoch davor ekeln und sie lieber nicht essen. Das Auge ißt auf jeden Fall mit.

Trotzdem bleibt es bemerkenswert, eine wie große Rolle das Schmecken in der sprachlichen Metaphorik behauptet. In der Bibel wimmelt es von Anrufungen vor allem des Süßen; unter den Sprüchen Salomos findet sich die großartig-geheimnisvolle Rede von den "verstohlenen" Wassern, die besonders "süß" schmeckten. In Dantes "Göttlicher Komödie" findet sich an wichtiger Stelle eine Meditation darüber, wie doch das Süße und das Bittere gar eng beisammen wohnen können, und wiederum in der Bibel, in der Bergpredigt, ruft Jesus seinen Jüngern mahnend zu: "Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man salzen?"

Um das Salz und andere Gewürze sind verheerendste Kriege geführt, ihretwegen sind anstrengendste Eroberungszüge organisiert worden. Eine ausgefeilte Geschmackskultur, Gewürzkultur, zu haben, galt zu allen Zeiten und in allen Gegenden als erstrangige zivilisatorische Errungenschaft und stabilisierte den Stolz der Völker; man denke an die sprichwörtliche "französische Küche" oder an den ungeheuren Wind, den man in Südasien und Insulinde um den "Curry" macht, die richtige Gewürzmischung, den Reigen von Pfeffer, Nelken, Piment, Muskat, Vanille und Zimt.

Warum das so ist, darf man durchaus fragen. Warum futtert der Mensch sein, möglicherweise etwas fades, Brot, Fleisch und Gemüse, in denen doch neben den Kalorien und Vitaminen durchaus auch genug der lebensnotwendigen Mineralstoffe enthalten sind, nicht einfach in sich hinein, weshalb muß es ihm auch noch "schmecken"? Weshalb schüttet er zusätzlich Pfeffer, Salz, Muskat und Vanille in die Speisen, obwohl das in vielen Fällen äußerst ungesund ist und das Leben sogar verkürzt? Scheint es nicht fast so, als wolle er sich damit seiner Sinnlichkeit, seiner Sinnenhaftigkeit, immer wieder ausdrücklich versichern, und zwar weil diese sein wahrer und letztlich einzig wichtiger Kontakt zur Welt ist?

Die Welt soll "schmecken", sonst hat sie keinen Sinn, auch wenn wir sie noch so oft berechnen und ihren logisch-kausalen Zusammenhang noch so sehr bewundern und ausnutzen. Wir wollen die Welt zwischen den Zähnen und auf der Zunge haben – das ist eben die elementarste, die kreatürlichste, die leibhafteste Form der Weltaneignung und Welteinwohnung, elementarer noch als alles, was die "höheren" Sinne zu bieten haben, elementarer selbst als Sexualität und Liebe – ein Eros von geradezu mineralogischer Wucht und Ursprünglichkeit.

Gegen diesen Eros des Schmeckens nimmt sich die klassische Rede von den Sinnen als bloßem "Meinen", als permanenter "Störung" und übler Fehlerquelle der exakten Weltwahrnehmung beinahe töricht aus. Man kann von den Sinnen sagen, daß sie – im Gegensatz zum logisch-mathematischen Verstand – kein Medium der Welt-Veränderung sind, sondern "nur" ein Medium der Welt-Vergewisserung, aber nie und nimmer, daß sie eine Welt der Täuschung etablieren.

Mag sein, es gibt tatsächlich ein Sein hinter dem sinnlichen Sein, eine "Weltformel", wie die theoretischen Physiker sagen, die Wahrheit Gottes, wie die Priester sagen. Und es mag auch sein, daß uns der Verstand eine Annäherung an diese Wahrheit ermöglicht. Aber es sind die Sinne, die uns definitiv, ohne alles "Vielleicht" und "Könnte sein" und "Annähernd", in der Welt verankern und sie uns glaubhaft machen.

Es sind die Sinne, die uns aus der unendlichen Fülle möglicher Weltaspekte gewissermaßen ein Segment, einen schmalen Grat von Welt "für uns", herausschneiden. Rechts und links des Grats drohen finstere Abgründe, in die der die Sinne überschreitende Verstand nur unzulänglich hineinleuchten kann: der Mikrokosmos und der Makrokosmos. Völlig rätselhaft bleibt alles, was die theoretische Physik aus diesen Sphären mitteilt, was die Mathematiker über sie "berechnen".

Offenbar geht es dort immer weiter und weiter, im Mikrokosmos von den sinnlich schon kaum mehr wahrnehmbaren Molekülen zu den vollkommen unwahrnehmbaren Atomen und von dort zu den subatomaren Teilchen und von dort zu den Quarks usw. usf., im Makromosmos von den Sternen zu den völlig unwahrnehmbaren Quasaren und Schwarzen Löchern und von dort zu den "Raumdurchbrüchen". Dort gibt es dann vorne ein Schwarzes Loch, und dieses Schwarze Loch kommt hinten als Weißer Riese wieder heraus.

Gegen solche verzweifelten Formeln schützt uns nur unsere Sinnlichkeit und da wieder in erster Linie der simple Geschmackssinn, der uns aus dem völlig theoretischen und konjekturellen Mikromosmos und dem ebenso theoretischen und konjekturellen Makrokosmos den einzig verläßlichen, nämlich den schmeckbaren und schmackhaften, den heimatlichen "Mesokosmos" herausschneidet. Alfred Biolek und seine kochenden Mitmoderatoren sind im Grunde die wahren Kosmologen, und das nicht nur zur Weihnachtszeit.


 
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