© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Sprengsatz Türkei
von Michael Wiesberg

Einen "wirklich historischen Beschluß", der "den inneren Reformprozeß in der Türkei befördern" könne und müsse, nannte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Entscheidung, die Türkei als EU-Beitrittskandidaten zu akzeptieren. Dieser Beschluß könnte sich allerdings in einer ganz anderen Art und Weise auswirken, als es Schröder und die anderen Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei glauben machen wollen.

Zunächst muß nüchtern festgehalten werden: die USA haben in ihrem Bestreben, den EU-Staaten eine Mitgliedschaft der Türkei schmackhaft zu machen, ein wichtiges Teilziel erreicht. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei bedeutet aus Sicht der USA eine dauernde Anbindung dieses für die USA geopolitisch so wichtigen Staates an Westeuropa. Daß die Europäer, insbesondere aber Deutschland, die Kosten für die Westintegration der Türkei zu zahlen haben werden, nehmen die USA kühl in Kauf. Um es mit Zbigniew Brzezinski zu sagen: dies ist ein Teil des Preises, den die westeuropäischen Staaten für die pax americana zu zahlen haben.

Dieser Preis wird sich insbesondere für Deutschland zum gesellschaftlichen Sprengsatz entwickeln. Trotz des Anwerbestops aus dem Jahre 1973 ziehen nach wie vor Jahr für Jahr 80.000 Türken im Rahmen der sogenannten Familienzusammenführung nach Deutschland. Nur 40.000 Türken kehren aber in die Türkei zurück. Dieser Zuwanderungsdruck aus der Türkei nach Deutschland würde im Falle einer EU-Mitgliedschaft noch einmal erheblich zunehmen, zumal er durch den gewaltigen Bevölkerungszuwachs der Türkei weiter forciert wird. Seit 1952 hat sich die türkische Bevölkerung von 20,9 Millionen Einwohner auf ca. 63 Millionen verdreifacht.

Festzuhalten bleibt weiter, daß insbesondere die östlichen Provinzen der Türkei von Analphabetismus und hoher Arbeitslosigkeit geprägt sind, was einen ständigen innertürkischen Wanderungsdruck auf die westlichen Provinzen zur Folge hat. Dieser Wanderungsdruck ist auch ein Ausdruck der ökonomischen Situation der Türkei: das türkische Bruttosozialprodukt von 3.140 Dollar pro Kopf entspricht etwa dem Panamas. Zum Vergleich: Deutschland erwirtschaftet ein Bruttosozialprodukt von 28.280 Dollar, Norwegen von 36.100 Dollar pro Kopf.

Die hochproblematischen Folgen des EU-Beschlusses sind noch nicht einmal in Ansätzen durchdacht, da wird dem staunenden EU-Bürger bereits die nächste Vision präsentiert: eine mögliche EU-Mitgliedschaft Israels. Der "wirklich historische Tag", von dem Gerhard Schröder schwadronnierte, könnte sich im Rückblick als Anfang vom Ende der EU erweisen.


 
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