© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Kino: "Pola X" von Leos Carax ist düster und langatmig
Eine Nummer zu groß
Ellen Kositza

Es gibt diese Filme, die gleichsam als inoffizielle Überschrift das achtungsgebietende Prädikat "Kunst" vor sich her tragen. Literaturverfilmungen fallen für gewöhnlich mit einem gewissen Automatismus unter diese Rubrik und begeben sich damit auf ein Niveau, das Kritik als Unverständnis erscheinen lassen kann. Regisseur Leos Carax hatte einst mit "Die Liebenden von Pont-Neuf" einen Volltreffer gelandet, der hohe Erwartungen an sein neues Wek schürt – "Pola X", angepriesen als "emotional radikales Epos" zwischen gesellschaftlichem Tabubruch und Tiefenpsychologie.

Der Filmtitel ist ein Akronym seiner literarischen Vorlage: Herman Melvilles "Pierre", dessen vollständiger Titel in der französichen Übersetzung lautet: "Pierre. Ou Les Ambiguites" von 1852. "Pierre", das letzte Werk des Vaters von Moby Dick, erwies sich schon seinerzeit als Flop und verkaufte sich miserabel. Carax’ Verfilmung nun, so wurde angekündigt, habe bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Cannes eine vielbeachtete Weltpremiere gefeiert. Die gehörige "Beachtung" sagt jedoch nichts über deren Qualität aus. So konnte man im Frühjahr vielmehr von allgemeinem Kopfschütteln anstatt von gewaltigen Begeisterungsstürmen über "Pola X" lesen: Von Carax’ gefeierter Wildheit seien nur Lärm und Klischees übriggeblieben, Pornographie statt Leidenschaft, befand ein Kritiker während der Festspiele.

Pierre (Guillaume Depardieu) mag dem einen als junger, sensibler Mensch mit Stil erscheinen, als schnöseliger Yuppie mit Hauptberuf Sohn dem anderen: die Sorte Mann eben, die morgens weiße Hosen mit Bügelfalten anziehen kann, um sie abends immer noch weiß und mit Bügelfalten in den Schrank zurückzulegen. Er lebt mit seiner Mutter (Catherine Deneuve) in einem Schloß in der Normandie, hat eine schicke Freundin und schriftstellert einem gewissen Bekanntheitsgrad zu.

Als Pierre sich eines Tages per Motorrad auf den Weg zu seiner Braut begibt, trifft er auf einer wenig befahrenen Straße mitten im Wald auf eine düstere Frau (Katerina Golubeva). Sie lockt ihn in das Dickicht des nächtlichen Tanns, wo die beiden sehr lange irrlichternd umhergeistern, dazu ein mysteriöser Singsang der Unbekannten: Sie sei Pierres Schwester, die einst vom Vater der beiden verstoßen worden sei. Pierre verfällt der Frau in jeder Hinsicht und folgt ihr. Den vielen Berührungen und Küssen zwischen Pierre und seiner Mutter, Pierre und seinem Freund, Pierre und seiner Braut, die der Film bis hierher bot, folgt letztlich auch das, wovon Feministinnen gelegentlich träumen, daß nämlich statt blanker Busen einmal ein männliches primäres Geschlechtsmerkmal eine tragende und sichtbare Rolle spiele.

Nach den Kopulationen zwischen Pierre und der Frau, die sich als seine Schwester ausgibt, nimmt eine dieser berühmten Dreiecksgeschichten ihren Lauf. Gleichzeitig soll nun Pierres von der Literatur-Szene schon mit Spannung erwartetes neues Werk als "großes Buch über die Wahrheit" erscheinen. Doch dieses Buch, so mag man sinnieren, ist eine Nummer zu groß für ihn...

Vielleicht war aber auch Melvilles Vorlage eine Nummer zu groß für Carax? Oder die Visionen, die Melville literarisch fassen wollte, zu groß für den Autor selbst? Oder der Film zu groß für die Rezensentin? Man mag fragen und rätseln, man kann es aber auch lassen und einen stürmischen Adventsspaziergang dem Kinobesuch vorziehen.

Ein düsterer, langatmiger Film für Menschen mit Zeit und Muße zum Grübeln ohne die Gewißheit, fündig zu werden.


 
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