© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Umweltpolitik: Bund für Umwelt und Naturschutz legt Studie über Atomreaktoren vor
Spielball der Atomindustrie
Gerhard Quast

Während die rot-grüne Bundesregierung in Konsensgesprächen mit den Atomkraftwerksbetreibern über die Länge der Betriebszeiten feilscht, ist die Frage, warum ein Atomausstieg überhaupt erforderlich sein könnte, längst aus dem Blick geraten. Das "Restrisiko" hat sich auf den rein hypothetischen Super-GAU reduziert. Von möglichen Risiken, die mit dem laufenden Betrieb der AKW verbunden sind, wird kaum noch gesprochen, sie werden "schlichtweg ins Reich der Fabel verwiesen", kritisiert der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND).

Um diesem Dilemma Abhilfe zu schaffen, legte der BUND vergangene Woche eine von dem Atom-Experten Helmut Hirsch verfaßte Studie über "Aktuelle Probleme und Gefahren bei deutschen Atomkraftwerken" vor. Sie soll zeigen, daß es sich bei dem mit hohen Kosten verbundenen Ausstieg nicht um eine "Kapitalvernichtung" handelt, sondern darum, das mit der Nutzung der Atomenergie verbundene Gefahrenpotential möglichst schnell zu minimieren.

Anhand von mehreren Fallstudien, die insgesamt acht AKW behandeln, will der BUND deutlich machen, daß über den Super-GAU hinaus Gefahren von den AKW für die Bevölkerung ausgehen:

p Beispiel 1: Nach einer Beinahe-Katastrophe in Block A des AKW Biblis 1987 forderte die Aufsichtsbehörde von der Betreibergesellschaft zahlreiche Nachrüstungen im Sicherheitsbereich. Während andere Altanlagen nachgerüstet worden seien, unterblieb dies im Fall von Biblis. Hinzu käme, daß schwere Mängel beim Schutz gegen Erdbeben bestünden, Kabel, Halterungen und Rohrleitungen nicht erdbebensicher verlegt seien. Zudem müsse von stärkeren Erdbeben ausgegangen werden als bisher angenommen, so das Hessische Umweltministerium im April 1999 im Vorgriff auf eine noch laufende Untersuchung. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist für Helmut Hirsch, daß die beiden Beamten, die jahrelang im Landesumweltministerium für Biblis verantwortlich waren und für eine Stillegung eingetreten seien, heute im Bundesumweltministerium (BMU) für die oberste Atomaufsicht zuständig seien, dort aber aus den Sicherheitsmängeln mit Hinweis auf die "schwierige Situation" im BMU bisher keine Konsequenzen gezogen hätten.

p Beispiel 2: Seit 1990 treten in der Umgebung des AKW Krümmel bei Kindern gehäuft Fälle von Leukämie auf. Ernstzunehmende Erklärungen gibt es dafür bisher nicht. Und obwohl die Strahlenbelastungen in der Umgebung des AKW, die aus den Ergebnissen der Emissions- und Immissionsüberwachung abgeleitet werden, offiziellen Stellen zufolge unterhalb jener Dosen liegen, die zu Leukämie führen können, will Helmut Hirsch das AKW Krümmel als Ursache nicht ausschließen. Insbesondere die Möglichkeit, daß relativ große radioaktive Partikel ("Crud") unkontrolliert aus dem Kühlwasser des Reaktors in die Abluft des Maschinenhauses gelangen könnten, hält er für denkbar, da die Kontrollen auf kleinste, in großer Zahl auftretende Schwebstoffe ausgerichtet seien. Diese werden schon durch kleine Stichproben repräsentativ nachgewiesen, so daß es möglich sei, daß die selten vorkommenden großen Crud-Teilchen von dieser Kontrolle nicht erfaßt werden. Schon ein einzelnes solches Teilchen könne aber bei einem Kleinkind zu Strahlenbelastungen führen, die Leukämie hervorrufen können, so die Studie. Ein bereits 1997 vom Land Schleswig-Holstein in Auftrag gegebenes Gutachten sollte zwar schon 1998 abgeschlossen sein, läge aber bis heute nicht vor.

p Beispiel 3: Das AKW Obrigheim, das seit rund 30 Jahren läuft und damit das älteste noch in Betrieb befindliche deutsche AKW darstellt, sei die einzige Anlage, deren Kühlkreislauf nur über zwei Stränge verfüge und damit nicht in der Lage sei, den vollständigen Abriß der Hauptkühlmittelleitung zu beherrschen. Gemeinsam habe Obrigheim dies mit älteren AKW sowjetischer Bauart.

p Beispiel 4: Ebenfalls mehrere Schwachstellen weist laut Studie das AKW Stade auf. Als wichtigstes Sicherheitsdefizit nennt Hirsch die "sehr starke Versprödung des Reaktordruckbehälters". Dieser Mangel sei zwar schon lange bekannt und auch durch 1994 hinzugezogene Sachverständige problematisiert worden, blieb aber ohne Konsequenzen: Eine von der niedersächsischen Aufsichtsbehörde eingeleitete Untersuchung des TÜV-Norddeutschland stellte nämlich nach vierjähriger Arbeit keine Sicherheitsprobleme mehr fest. Was Helmut Hirsch kaum verwundert. "Es war kaum zu erwarten, daß der gleiche TÜV, der die Lücken im Sicherheitsnachweis lange Zeit übersehen hatte, ihre Bedeutung bestätigt und sich damit selbst grobe Nachlässigkeit bei seiner bisherigen Arbeit bescheinigt."

Für die Gutachter ergeben sich daraus vielfältige Schlußfolgerungen, etwa die, daß die Betreiber von AKW zu weitgehende Einflußmöglichkeiten bei der Auswahl der Gutachter haben, Prüfungen häufig in die Länge gezogen und um Jahre verzögert werden und Sicherheitsdefizite und Schwachstellen mit zweierlei Maß gemessen würden. Mängel, die etwa bei osteuropäischen AKW zu Recht kritisiert werden, schweigt man aus Rücksicht gegenüber den Atomkraftwerksbetreibern tot. Damit mache sich die Regierung zum "Spielball der Atomindustrie", so Renate Backhaus, atompolitische Sprecherin des BUND-Vorstandes, bei der Vorstellung der Studie.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen