© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Spendenaffäre: Peter-Michael Diestel über das "System Kohl" und notwendige Konsequenzen
"Kritik an vielen Schlafmützen"
Thorsten Thaler

Herr Diestel, eine Millionenspende in bar, die unter konspirativen Umständen den Besitzer wechselt, schwarze Kassen, aus denen Milionenbeträge unbekannter Herkunft fließen. In der CDU herrschen offenbar mafiotische Zustände.

Diestel: Was Sie jetzt geschildert haben, halte ich für ein Ganovenstück, das notwendigerweise den Staatsanwalt beschäftigen muß. Das ist meine Bewertung als Anwalt und Politiker, der weiß, wie mit derartigem umzugehen ist.

Dieser "eigenwillige" Umgang mit Geldern und Finanzen ist kein Kavaliersdelikt und wurde offenbar über Jahre in der CDU praktiziert.

Diestel: Das ist rechtswidrig und erfüllt meines Erachtens mehrere Straftatbestände. Und ein derartiges Vorgehen bedarf öffentlicher Kritik und möglicherweise der Ahndung durch die Strafverfolgungsbehörden dieser Republik.

Nun wird diese Finanzpraxis immer in Zusammenhang gebracht mit dem "System Kohl". Was verstehen Sie darunter?

Diestel: Ich hatte ja das Glück, in der Umgebung von Helmut Kohl, den ich persönlich sehr schätze, dieses System kennenzulernen. Doch ich war nie einer der Günstlinge von Helmut Kohl. Er hat mich stets mit einem hohen Maß an Argwohn und Skepsis betrachtet. Wir haben aber wichtige historische Aufgaben zusammen gelöst, und ich bin sehr froh darüber, ihm begegnet zu sein. Ich sage es mal deutlich: Es kotzt mich an, wie die Konservativen, wie die bürgerlichen Kräfte in Deutschland mit diesem Mann jetzt umgehen! Wie vorverurteilt wird. Und wie die Günstlinge, die von diesem dubiosen Koffer profitiert haben, jetzt von ihm abrücken und Krokodilstränen weinen. Das ist schon ein tragikomisches Kabinettstück, das sich meine Partei da leistet.

Helmut Kohl soll das Geld dafür verwendet haben, CDU-Verbände finanziell zu unterstützen und sich ihr Wohlwollen zu sichern. Was haben Sie davon in Ihrer aktiven Zeit in Brandenburg mitbekommen?

Diestel: Mein Verhältnis zu Helmut Kohl schließt aus, das ich je eine solche Zuwendung erhalten hätte. Aber es ist ja nicht ein "System Kohl", sondern eine christlich-demokratische Volkspartei mit gewachsenen historischen Strukturen, in der auch der Kanzler und Parteivorsitzende nur ein Funktionär in einer riesengroßen Hierarchie ist. Wenn der Rest der Hierarchie schläft oder etwas derartiges zuläßt, dann muß sich dieser Rest auch die Kritik gefallen lassen. Diese Kritik richtet sich also gegen die ihn Umgebenden wie Schäuble, Merkel und Rühe.

Aber ist es nicht ganz unstrittig so, daß sich Helmut Kohl mit Geld seine Kritiker und Gegner gefügig gemacht hat?

Diestel: Nein, das ist nicht meine Auffassung. Ich kann doch dem Starken nicht die Stärke vorwerfen, sondern ich muß den Schwachen vorwerfen, daß sie sich nicht gewehrt haben. Das, was Sie jetzt sagen, ist möglicherweise die Absicht gewesen, aber Herr Kohl hätte mich nicht mit Geld gefügig gemacht und auch nicht Lothar de Maiziere und andere aufrechte Köpfe in der CDU. Aber sicherlich war der Sinn dieser Geldgaben, bestimmte Landesverbände gefügiger zu machen, und zwar die Stärksten und nicht die Schwächsten.

Und das halten Sie für korrekt?

Diestel: Das halte ich natürlich für völlig unkorrekt. Aber meine Kritik wendet sich an die vielen Schlafmützen, die in der Umgebung des Systems Kohl diese zweifelsohne rechtswidrige Praxis zugelassen haben.

Wie glaubwürdig ist es, daß jetzt viele von Kohls engsten Weggefährten wie etwa der ehemalige Generalsekretär Volker Rühe behaupten, sie hätten von nichts gewußt?

Diestel: Entweder sind die dämlich, oder sie schwindeln. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Die ganze Sache hat nicht zuletzt Heiner Geißler ins Rollen gebracht, der die Existenz schwarzer Kassen einräumte. Was glauben Sie, steckt dahinter für ein Motiv? Rache an Kohl?

Diestel: Das ist eine der schwächsten Aktionen von Heiner Geißler. Wenn er dieses Wissen über zehn Jahre mit sich herumschleppt, dann muß er sich fragen lassen, ob er noch seinen Sinn für das demokratische Funktionieren einer Partei hat. Heiner Geißler ist intelligent und gebildet und wußte genau, daß die von ihm kritisierte Verfahrensweise rechtswidrig war. Wenn er jetzt, nachdem Kohl nicht mehr die Macht hat, den Stein ins Rollen bringt, dann muß die Frage erlaubt sein: Warum hat er das nicht früher getan? Mannhaft und mutig, wie das von einem Poltiker verlangt wird, der vom Staat einen Haufen Geld bekommt. Das ist für mich ein Ausdruck von außerordentlicher Feigheit und Angepaßtheit, die mich beschämt und die mich mein Parteibuch mit Wehmut betrachten läßt.

Vor allen anderen ist doch aber Helmut Kohl derjenige, der zur Aufklärung beitragen müßte. Statt dessen jammert er, er habe doch nur das Beste gewollt.

Diestel: Natürlich muß Helmut Kohl jetzt alle Fakten auf den Tisch legen. Das ist völlig klar.

Aber er tut es nicht. Warum zögert er so lange?

Diestel: Ich weiß nicht, ob er zögert, es laufen ja einige Strafanzeigen gegen ihn, es wird mit Sicherheit auch gegen ihn ermittelt. Und es ist jetzt aus verfahrensrechtlicher Sicht schwierig, sich zu äußern. Ich kann ihm aber im Rahmen der historischen Wahrheit nur raten: Er muß jetzt aufpassen, daß seine historische Lebensleistung nicht gekippt wird – denn sie ist am Kippen. Und möglicherweise werden diese Aktivitäten von Helmut Kohl sein geschichtliches Bild ganz erheblich verdunkeln. Deshalb sollte er alles offen darlegen, auch die Mitwisser benennen, damit in der CDU reiner Tisch gemacht werden kann.

In Italien sind die Christdemokraten im Zuge ihrer Verstrickung in diverse Finanzskandale von der politischen Bühne verschwunden. Droht der CDU in Deutschland ein ähnliches Schicksal?

Diestel: Ich sehe erstmal, daß die Zerstörung des Kunstbildes Helmut Kohl der CDU unheimlich schaden wird. Zweitens, daß sich diese Parteispendenaffäre spielend leicht bis zur nächsten Bundestagswahl hinziehen läßt, daß hier offenkundig wird, daß die CDU an die Grenzen ihrer Kraft und ihrer Möglichkeiten gekommen ist. Damit das italienische Beispiel nicht Wirklichkeit wird, sollte die CDU über ihr Verhalten jetzt gut nachdenken und auf Kräfte setzen, die mit diesen Vorgängen überhaupt nichts zu tun hatten. Es gibt viele Leute in der CDU, die immer eine kritische Distanz zu Helmut Kohl und seinem System hatten und die jetzt gefragt sein sollten.

Auf neue Kräfte zu setzen, heißt aber im Umkehrschluß, sich von den alten zu trennen.

Diestel: Ich weiß gar nicht, wie Wolfgang Schäuble, Volker Rühe und andere überhaupt einen einzigen kritischen Blick auf ihren ehemaligen Parteivorsitzenden werfen können. Sie haben ja permanent in engster Nähe zu ihm gestanden. Deswegen müssen sie sich jetzt vorwerfen lassen, entweder nichts gewußt zu haben, dann sind sie ihrer Funktion nicht gerecht geworden und haben politische Unfähigkeit bewiesen. Oder sie haben es gewußt, dann müssen sie erst recht gehen. In beiden Fällen haben diese Personen über lange Jahre versagt.

Und Ihre Schlußfolgerung?

Diestel: Die CDU kommt aus diesem Sumpf nur durch eine große Erneuerung heraus: In- dem bürgerlich-konservative Kräfte, die nicht verfilzt sind, die selbständig im Leben stehen und von der Parteihierarchie nicht abhängig sind, Funktionen übernehmen.

Also Rücktritt der jetzigen Parteispitze?

Diestel: Ich will nicht als einfaches CDU-Mitglied den Rücktritt der Parteispitze verlangen. Aber sicherlich wäre eine schnelle und gründliche Operation an einem krebskranken Körper das sinnvollste, um das Überleben zu garantieren.

Sie drücken sich vor der Antwort.

Diestel: Das haben Sie richtig erkannt. Ich weiß nur, daß schnelles und rigoroses Handeln jetzt notwendig ist.

Droht der CDU jetzt die Spaltung in "Kohlisten" und jene, die eine Erneuerung wollen?

Diestel: Ich bin ein "Kohlist" und will die sofortige Erneuerung. Ich halte Helmut Kohl für eine der stärksten Persönlichkeiten der Nachkriegszeit und der aktuellen Politik, und ich sehe es trotzdem als ganz notwendig und unerläßlich an, daß ein rigoroser Schnitt gemacht wird, damit die Leute gehen müssen, die in diesem System standen und entweder wissentlich davon profitiert haben oder den Mißständen nicht entgegengetreten sind.

Muß angesichts dieser Vorfälle nicht das gesamte System der bundesdeutschen Parteienfinanzierung überdacht werden?

Diestel: Nein, ich glaube, daß wir die Verfahrensweise überdenken müssen. Die Parteienfinanzierung läßt sich nicht grundlegend ändern – wohl aber die "Durchsichtigkeit" der Finanzierung. Das Prinzip der "gläsernen Taschen" müßte nirgendwo so streng gelten wie bei den politischen Parteien.

Also muß doch etwas geändert werden?

Diestel: Die Praxis muß geändert werden. Ich glaube, daß es die Rechtsordnung hergibt, die ordnungsgemäße Finanzierung der Parteien zu kontrollieren. Dafür brauchen wir kein neues Recht, sondern nur ein wirksame Kontrollmechanismen. Ich sehe keine Möglichkeit, die Parteien anders zu finanzieren.

 

Dr. Peter-Michael Diestel 1952 in Prora auf Rügen geboren, war von April bis Oktober 1990 stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister der letzten DDR-Regierung. Im Januar 1990 Mitbegründer der Deutschen Sozialen Union (DSU) und bis Juni deren Generalsekretär, wechselte er im August 1990 in die CDU. Im Oktober 1990 wurde er Abgeordneter im Brandenburger Landtag; bis Mai 1992 war er dort Vorsitzender der CDU-Fraktion. Peter-Michael Diestel war Mitinitiator der "Komitees für Gerechtigkeit" und Präsident des Fußballbundes-ligavereins FC Hansa Rostock. Heute ist er in Potsdam als Rechtsanwalt tätig.


 
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