© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/99 03. Dezember 1999


Mißbraucht
von Moritz Schwarz

Zehn Jahre nach dem Ende der DDR hat die Gauck-Behörde nun endlich eine Auswertung der Infiltrationsarbeit der Stasi im Westen Deutschlands vorgelegt. Im Vergleich zu ihrer Rolle im Osten mag dies vielleicht nur als die "kleine Geschichte" der Stasi betrachtet werden. Aber es ist ein Kapitel, ohne das das Bild in entscheidendem Maße unvollständig wäre. Der Historiker Hubertus Knabe schreibt, bald hätte er sein typisch westdeutsches Bild, die Stasi hätte im Westen nichts anderes getan als jeder andere Geheimdienst auch, revidieren müssen. Noch verheerender aber ist die moralische Dimension: In Westdeutschland hat es nach Schätzungen der Gauck-Behörde zwischen zwanzig- und dreißigtausend Stasi-Informanten gegeben! Eine Kleinstadt! Und da die Westakten fast alle vernichtet werden konnten, ist kaum einer je enttarnt und zur Verantwortung gezogen worden. Erschreckend auch die Unterwanderung und Instrumentalisierung der Grünen, Linken und Friedensbewegten. Scheinbar "aufrechte Mitstreiter" waren verräterische Spitzel.

Vom kleinen Bezirksbeirat bis zur Parlamentsabgeordneten reicht der Rang linker Stasi-Zuarbeiter. Eine Aktion wie die "Generäle für den Frieden" entpuppt sich als hundertprozentige Stasi-Schöpfung. Schließlich fielen in den Reden der Friedensdemonstrationen 1981 in Bonn gar die unerhörten Worte von den "irrealen Forderungen nach Geltung der Menschenrechte westlicher Prägung auch in Osteuropa". Heute wissen wir, wer da die Fäden gezogen und wer sich in unverantwortlicher Weise zum "nützlichen Idioten" gemacht hat.

Den Mitteldeutschen ist es eine Erleichterung, daß nicht nur sie von der Krake Stasi bedrückt wurden. Den Westdeutschen könnte es eine Lehre dafür sein, wie leicht es ist, sich in Geschichte zu verstricken, wie schnell und unmerklich Ideale mißbraucht und manipuliert werden können. Allen Deutschen könnte es eine Gemeinsamkeit stiftende Erfahrung auf dem Weg der inneren Einheit sein. Was Knabe ans Licht gebracht hat – den Mißbrauch und auch das nur allzu willfährige Mißbrauchenlassen der Linken im Nachkriegsdeuschland – kann als erneute historische Niederlage der deutschen Linken nach der selbstverschuldeten Sprachlosigkeit von 1989 gewertet werden. Mit der Erfahrung des politischen Mißbrauchs – nach dem Prinzip eines jeden Mißbrauchs, nämlich "zu gegenwärtigen Zwecken" (Martin Walser) – hat die Linke endgültig ihre Unschuld verloren. Besser: den Mythos von ihrer Unschuld. Die Anmaßung, links stehe per se auf der guten Seite und demzufolge alles andere zumindest zweifelhaft, ist passé. Hochmut kommt vor dem Fall.


 
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