© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/99 26. November 1999


Vom gerechten Teilen
von Klaus Motschmann

Anläßlich des 10. Jahrestages der Maueröffnung in Berlin hat der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl ungewöhnlich scharfe Kritik am Verhalten der Kirchen geübt, indem er an ihr "erbärmliches Schweigen" zu diesem Ereignis und vor allem zum Prozeß der Vereinigung Deutschlands erinnerte. Er hat damit das häufig zitierte Wort eines bekannten evangelischen Theologen bestätigt, daß die evangelische Kirche in ihrem Verhalten zu den großen geistigen und politischen Herausforderungen dieses Jahrhunderts "jeweils zur Unzeit geredet und zu Unzeit geschwiegen" habe.

So berechtigt die Kritik Kohls auch ist, so sollte er allerdings auch bedenken, daß dieses Schweigen in der damaligen Zeit schwerer Entscheidungen vielleicht das beste war. Wer nichts sagt, sagt bekanntlich auch nichts Falsches. In diesem Sinne haben nicht wenige Protestanten dieses Schweigen als eine Art "Bußschweigen" verstanden. Sie haben daran die Hoffnung geknüpft, daß sich die Kirche wieder auf ihren eigentlichen Auftrag der Verkündigung des Wortes Gottes besinnen möge, wovon im Blick auf die ungezählten "Worte" zu allen möglichen und unmöglichen politisch-gesellschaftlichen Problemen seit den sechziger Jahren kaum noch die Rede sein konnte. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt!

Die evangelische Kirche hat nach einer relativ kurzen Phase des Schweigens und der Irritation die Sprache wiedergefunden in der offenkundigen, teilweise auch offen erklärten Absicht, den "Traum" vom Sozialismus nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa zu bewahren und "wohlfeiler Sozialismusschelte" zu widersprechen. Immerhin bewahre der Sozialismus ein "unaufgebbares Humanum", das sich unter anderem in dem "Uranliegen der sozialistischen Bewegung nach Gerechtigkeit" nachweisen lasse. Damit war das neue Stichwort für die Fortsetzung der bisherigen Praxis der Produktion von allen möglichen Worten in der evangelischen Kirche ausgegeben.

Nun handelt es sich bei dem Begriff "Gerechtigkeit" bzw. "soziale Gerechtigkeit" keinesfalls allein um ein Grundanliegen der sozialistischen Bewegung. Alle großen geistigen und politischen Bewegungen in Geschichte und Gegenwart haben sich dem Kampf um Gerechtigkeit verpflichtet gefühlt. Millionen und Abermillionen Menschen haben ihr Leben im Kampf um die Gerechtigkeit verloren – oder aber im Namen der Gerechtigkeit. Wer vermag auch nur eine noch so kleine Partei oder Bewegung zu nennen, die nicht das Prinzip Gerechtigkeit vertreten hätte?

Definitionen des Begriffes "Gerechtigkeit" gibt es demzufolge in Hülle und Fülle, so daß es ein nutzloses Unterfangen wäre, auch nur einige als einigermaßen verbindlich zu erklären. Insofern teilt dieser Begriff das Schicksal vieler anderer Begriffe in Gesellschaft und Politik, die im Zuge der allgemeinen Sinnentleerung unserer Sprache zu leeren Worthülsen verkommen sind: sie können je nach weltanschaulich-politischem Standort ganz verschieden "gefüllt" werden. Es ist schon so, wie Mephisto treffend und einfühlsam für derartige Probleme geraten hat: "Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen.

Mit Worten läßt sich trefflich streiten, / Mit Worten ein System bereiten, / An Worte läßt sich trefflich glauben, / Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben."

Die Konsequenzen dieses schludrigen Umgangs mit nicht mehr eindeutig definierbaren Begriffen, unter denen alles und nichts verstanden werden kann, sind bekannt, zum Beispiel an der Sozialismus-Diskussion der vergangenen Jahrzehnte. Die evangelische Kirche hat sich an dieser Diskussion maßgebend beteiligt und damit zu einer bis heute andauernden Verwirrung der Positionen und Begriffe beigetragen, die sich an den Worten zur "sozialen Gerechtigkeit" nachweisen läßt.

Nicht alles, was in den vielen "Worten" gesagt wird, ist von vornherein unter Ideologie-Verdacht zu stellen; vieles ist auch christlich geboten; manches ist selbstverständlich; einiges banal. Kurzum: "Es liegt in (ihnen) so viel verborgenes Gift, und von der Arzenei ist‘s kaum zu unterscheiden", um noch einmal Goethe zu zitieren.

Auf klare Unterscheidungen kommt es aber an, wenn man notwendige geistige, politische und wirtschaftliche Entscheidungen von den Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik dauernd anmahnt und wenn man nicht in den Verdacht geraten will, "williger Vollstrecker" der sozialistischen Bewegung zu sein. Der Beifall von dieser Seite sollte zumindest aufmerken lassen und zum Nachdenken Anlaß bieten – wobei man selbstverständlich weiß, daß niemand vor Beifall von der falschen Seite sicher ist. Aber ist es wirklich Beifall von der "falschen Seite"?

Wenn es aus den angedeuteten Gründen sehr schwer ist, den Begriff "soziale Gerechtigkeit" positiv zu definieren (d.h. was darunter konkret zu verstehen ist), so ist es sehr einfach, ihn negativ zu definieren (d.h. was nach christlichem Verständnis darunter auf gar keinen Fall zu verstehen ist). Es war guter Brauch der beiden Kirchen über die Jahrhunderte hinweg, nicht nur zu definieren, was man bekennt, sondern gleichermaßen, was man nicht bekennt und was man ausdrücklich verwirft. Irrtümer, Mißverständnisse und Fehldeutungen konnten auf diese Weise weitgehend ausgeschlossen werden. Beifall von der "falschen Seite" war bei dieser Beachtung einer Grundregel überzeugender Kommunikation kaum noch zu erwarten. Weshalb mißachtet die evangelischen Kirche diese Regel dann? Das muß Gründe haben, über die nachgedacht werden sollte.

Ein Blick in das Neue Testament kann in dieser Hinsicht wertvolle Einsichten vermitteln, die man in den erwähnten Worten der evangelischen Kirche kaum noch wahrzunehmen vermag. Auch nicht in den Erklärungen der kürzlich in Leipzig tagenden Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, um nur das letzte konkrete Beispiel dieser Denkart zu nennen.

Da wird zum Beispiel im Neuen Testament von einem Weinbergbesitzer (also Grundbesitzer, Kapitalist) berichtet, der seine Arbeiter (Lohnabhängigen) unterschiedlich lange in seinem Weinberg arbeiten ließ – zwischen elf und einer Stunde –, allen Arbeitern aber am Abend den gleichen Lohn zahlte. Man stelle sich ein derart ungerechtes Verhalten in einem heutigen Betrieb vor!

Dieses ganz offenkundig ungerechte Verhalten haben auch die Arbeiter damals empfunden und deshalb "gemurrt"; ein Beweis für die Tatsache, daß es von allem gesellschaftlichen Wandel unbeeinflußbare Konstanten des gesellschaftlichen Verhaltens gibt.

Was aber antwortete der Besitzer einem der Arbeiter? "Ich tue dir nicht Unrecht. Sind wir dir eins geworden um einen Groschen? Siehst du mich nur darum scheel an, weil ich so gütig bin" (und den anderen auch einen Groschen zahle)? (Matth. 20, 13 ff).

Selbstverständlich liegt mit diesem Gleichnis kein Musterbeispiel für künftige Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor. Man würde den Sinn dieses Gleichnisses auch gründlich mißverstehen, wenn man aus ihm direkte sozialpolitische Forderungen ableiten würde.

Vielmehr kommt es auf die Kernaussage dieses Gleichnisses an: daß sich Gerechtigkeit im Vollsinn des Wortes nicht arithmetisch exakt bis auf die letzte Kommastelle nach dem proportionalen Anteil eigener Leistungen berechnen läßt. Nach einem bekannten Wort Bismarcks würden die vorhandenen Mittel eines Staates niemals ausreichen, um auf diesem Wege Gerechtigkeit zu verwirklichen. Gerechtigkeit läßt sich nach allen Erfahrungen der Geschichte immer nur vorübergehend, aber niemals auf Dauer in sogenannte Haben-Ordnungen erfahren, sondern allein in religiös fundierten Seins-Ordnungen.

Zur Vermeidung naheliegender und gezielter Mißverständnisse sei nur beiläufig daran erinnert, daß dieser notwendige Zusammenhang (die sogenannte coniunctio rerum omnium; daher das Wort "Konjunktur") bis vor wenigen Jahren noch von allen maßgebenden Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretikern als entscheidende Voraussetzung einer dauerhaft gerechten und menschenwürdigen Ordnung beachtet worden ist. Als ein Beispiel von vielen anderen sei an das nach wie vor anregende Buch "Haben oder Sein?" von Erich Fromm erinnert, nicht eben ein Repräsentant konservativer Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie.

In diesem Sinne heißt es an zentraler Stelle im Neuen Testament: "Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit – so wird euch solches alles zufallen." (Matth. 6, 33)

Damit ist überhaupt nichts gegen die Ordnungen und Anordnungen dieser Welt gesagt, sondern allein die Beachtung eines notwendigen Zusammenhangs gefordert, der zum Verstehen von Gerechtigkeit nach christlichem Verständnis allerdings unabdingbar ist.

Viele Zeichen der Zeit deuten darauf hin, daß das Lebens- und Verantwortungsgefühl in allen Schichten unseres Volkes mehr und mehr von der "Sehnsucht nach dem ganz Anderen" (Max Horkheimer) bestimmt wird. Deshalb werden Antworten gesucht, die nicht mehr dem Wertekanon der siebziger und achtziger Jahre entnommen werden können. Die "Belastbarkeit des Sozialstaates" ist auf vielfache Weise durch immer neue Ansprüche geprüft worden und hat sich als sehr groß erwiesen. Inzwischen werden die Grenzen der Belastbarkeit für jedermann erkennbar; es zeigen sich deutliche Defizite in manchen bisher selbstverständlichen Leistungen.

Wenn in diesem systematisch herbeigeführten Zustand auch in der evangelischen Kirche von Anschlägen und Bedrohungen der "sozialen Gerechtigkeit" gesprochen werden kann, dann stellen sich erneut ernsthafte Frage nach ihrer öffentlichen Verantwortung. Es gibt nicht nur ein "erbärmliches Schweigen", es gibt auch ein weit gefährlicheres "erbärmliches Reden", dann nämlich, wenn in all den ideologisch motivierten und diktierten Schlagworten zum Thema "soziale Gerechtigkeit" das Wort Gottes nicht mehr vernehmbar ist und die christlich gebotene Mission weiterhin im Sinne ideologischer Bewußtseins-Transmission unseres Volkes betrieben wird.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die sozialistischen Irrwege der Kirche (JF 26/99).


 
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