© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Graffiti: Gespräch mit dem Agentur-Inhaber Kuros A. Rafii über Sprayer, Ästhetik und Kommerz
"Nationale Besonderheiten gibt es nicht"
Claus-M. Wolfschlag

Die Graffiti-Agentur "Oxygen" gründete Kuros A. Rafii 1995 in Frankfurt am Main. Etwa 40 bis 50 Künstler stehen bei ihm unter Vertrag. Nicht alle werden im Graffiti-Bereich eingesetzt. Einige arbeiten auch vorrangig am Computer. Rafii vermittelt die legalen Arbeiten an namhafte Firmen wie Bahlsen, Bosch, Coca-Cola oder Siemens. Der Quadratmeter kostet zwischen 150 und 250 Mark, von denen "Oxygen" 15 Prozent Provision erhält.

Das nachfolgende Gespräch ist – abgesehen von der strittigen ästhetischen Frage – unter verschiedenen Aspekten interessant. Graffiti offenbart sich darin als eine internationalistisch ausgerichtete "Volkskunst", fernab des "hohen", intellektuellen Kulturbetriebs. Philosophische Hintergründe besitzt "Graffiti" nicht, vielmehr steht die pure Aktion im Vordergrund. Gleichzeitig ist es auch Produkt der Entfremdung von einer Umwelt, die zunehmend von kapitalistischen Verwertungsprozessen beherrscht wird. Dieser Entfremdung durch Konsum-Werbung begegnet man nicht durch Strategien der ästhetischen Beruhigung, sondern indem man die Farb- und Formüberreizung noch beschleunigt. Scheint auf der einen Seite kaum Unrechtsbewußtsein gegenüber fremdem Eigentum zu bestehen, fällt auf der anderen Seite die kreative Energie auf, die man positiv nutzen will, statt sie in Form purer Aggression auszuleben.

Herr Rafii, was beinhaltet Graffiti?

Rafii: Graffiti ist der introvertierteste Bestandteil der HipHop-Kultur. Dahinter verbirgt sich eine ganze Lebenseinstellung. Für manche Kids ist vielleicht nur aus Modegründen zwei Jahre lang ein Thema. Anderen bedeutet es deutlich mehr. Die sind seit 10, 15 Jahren dabei und malen noch. Zentral geht es beim Graffiti um den eigenen Namen, den man so oft wie möglich im eigenen Stil zu schreiben versucht.

Ist das nicht ein sehr narzistischer Vorgang, der den eigenen Namen zum Fetisch erhebt?

Rafii: Das kann ich nicht völlig verneinen. Allerdings ist Graffiti nur ein Überbegriff. Da fallen auch politische Parolen oder Liebesgrüße darunter. "New York Subway Graffiti" ist Ende der sechziger bis in den siebziger Jahren in der amerikanischen Metropole entstanden. In dieser Zeit begann es, daß die Werbebranche durch Außenreklamekampagnen enormen Druck gemacht hat. Die Kids wuchsen mit dem Bewußtsein auf, eine Markenpräsenz um sich herum zu haben, gegen die man rebellierte. Dazu kamen Revierkämpfe unter den Jugendgruppen. Man markierte, ähnlich dem Tierreich, sein Revier und zeigte gleichzeitig, daß man präsent war. Und um so präsenter man ist, um so wichtiger erscheint man. Man sucht Anerkennung und Respekt über seinen Stil und die häufige Verbreitung seines Namens.

Worin liegt die Faszination des Graffiti?

Rafii: Das ist eine sehr individuelle Frage. Grundsätzlich wird jeder bestätigen, daß das illegale Element einen gewissen Kick beinhaltet. Das beinhaltet, innerhalb kürzester Zeit, unter widrigsten Umständen, kreativ tätig zu werden.Wie sich das bei jedem einzelnen weiterentwickelt, warum erwachsen werdende Jugendliche beim Graffiti bleiben, ist sehr unterschiedlich.

Führt der Generationswechsel zu Änderungen, weil die Leute irgendwann älter werden und dann legal arbeiten wollen?

Rafii: Nicht das Angebot hat die Nachfrage geschaffen. Es haben keine Sprayer angefangen, tagsüber zu arbeiten und dann kamen die Angebote. Es war umgekehrt. Seit Anfang der neunziger Jahre bekam Graffiti einen zweiten Schub, nachdem es Mitte der Achtziger bereits teilweise verschwunden war. Graffiti wird als junge Ausdrucksform gesehen und tauchte damals wieder in irgendwelchen Werbespots von Anzeigen auf – allerdings nicht authentisch, sondern in Formen, die sich mancher Art Director als Graffiti vorgestellt hat, um dadurch eine Zielgruppe zu erreichen. Das kam bei den "originals" an. Der Schritt in die Legalität wurde geebnet, weil die Nachfrage bestand. So kam man aufeinander zu. Als wir 1995 mit "Oxygen" anfingen, waren somit mehrere Punkte ausschlaggebend: Einmal mangelte es bei vielen Künstlern am Verhandlungsgeschick und am Bewußtsein vom Wert der eigenen Arbeit. Zum anderen war bei den großen Unternehmen, die als Abnehmer fungieren, eine gewisse Angst vorhanden, ob Graffiti gut fürs Image ist, ob die Wünsche auch richtig umgesetzt werden. Hier stellen wir das vermittelnde Bindeglied.

Wie sieht es mit dem Unrechtsbewußtsein der Szene aus, wenn das Eigentum anderer Leute bemalt wird, diese das aber nicht wünschen?

Rafii: Man kann es als Fakt vorraussetzen, daß jedem, der eine Wand oder einen Zug gestaltet, bewußt ist, einer illegalen Tätigkeit nachzugehen. Was für viele nicht so klar ist, und was ich durchaus nachvollziehen kann, ist der Begriff der "Sachbeschädigung". Gerade in Großstädten wird niemand gefragt, ob er am gegenüberliegenden Haus eine Werbefläche haben möchte oder ob er als erstes am Morgen auf irgendein Plakat schauen möchte. Es wird keiner gefragt, ob in seiner Nachbarschaft irgendwelche architektonischen Verbrechen verrichtet werden. Solange da Geld eine Rolle spielt, ist alles legitim. Graffiti ist von seiner illegalen Seite her nicht kommerziell. Das setzt – ohne jetzt zu politisch zu werden – von seiten des "Systems" entsprechende Kräfte frei, die das ganze zu kontrollieren versuchen. Die Sprayer zeigen natürlich, wenn sie an Stellen arbeiten, die eigentlich nicht zugänglich sein sollten, Schwachstellen auf. Aus diesem Grund versucht ein politisches System zu verfolgen, damit sich nicht die Meinung breitmachen kann, hier könne jeder tun und lassen, was er will. Das hat dazu geführt, daß die Sprayer immer kreativer wurden, und daß von seiten der Ordnungskräfte die Methoden und Strafen immer drastischer wurden. Andersherum betrachtet enthält die Hip-Hop-Kultur die Maxime: "Benutze deine in der liegenden Energien – wie Wut, Aggression oder Unterdrückt-fühlen – positiv. Werde kreativ und gestalterisch tätig. Haue aber keinem auf die Mütze, sondern tanze, singe, scratch mit Platten oder male etwas." Und Graffiti ist durch das "writing my name" auch so etwas wie ein Aufschrei in bunten Farben, der sagt: "Hier bin ich. Und ich bin schön." Man hat Ideen und kann gestalterisch tätig werden. Also geht es hier nicht um die Zerstörung oder daß man die Hauswand vom Nachbarn beschmieren möchte, weil man denkt: "Der Blödmann hat’s nicht anders verdient." Es geht darum, in einer anonymen Umgebung, in der man sich eingeengt fühlt, in der man kaum wahrgenommen wird, in der man sich kaum entfalten kann, Individualität zu beweisen.

Graffiti als individuelle Protest-Reaktion auf gesellschaftliche Entfremdung?

Rafii: Die Gedankenkette läuft über die Stationen Jung=Unreif=Beschädigung von Sacheigentum=Protest. Das ist aber nicht zwangsläufig so. Es geht bei den Kids um den Kick, darum, daß es vielleicht auch die Freunde machen. Allerdings muß eine kreative Energie da sein, sonst konsumiert man ja nur. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, und in der besteht ein Unterschied zwischen writern und anderen Jugendlichen, die nur konsumieren; und das pure Konsumieren fällt nunmal um so vieles leichter. Aber ich bezweifle, daß das zwangsläufig der Ausdruck einer bestimmten Protesthaltung ist. Beim ein oder anderen wohl auch, aber nicht grundsätzlich.

Ist Graffiti politisch?

Rafii: Das Politische ist ein Nebeneffekt des Graffiti-Sprayens. Writer, die älter werden, erkennen diese Komponente, weil sie sich fragen: "Warum werden wir immer härter verfolgt? Warum wird hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Warum ist das, was wir nachts an einem Zug machen, ein derart schweres Delikt, wenn doch am nächsten Tag eine Firma kommt, Geld für Werbefläche auf den Tisch legt und den Zug damit noch viel schlimmer verschandelt?" Die Frage der Ästhetik auf Kosten des Kommerz wird sich dann sicher auch stellen. Eine einheitliche politische Ausrichtung der Sprayer-Szene besteht aber nicht. Es ist auch ein gängiges Klischee, daß sich Hip-Hoper oder Sprayer aus sozialen Brennpunkten rekrutieren. Dem ist nicht so.

Ist Graffiti nur eine Kopie von Vorgaben aus den USA? Oder existieren Spezifika einer nationalen "Sprayer"-Kultur?

Rafii: In New York entstand Graffiti aus Gang-Rivalitäten und einem kreativen Drang heraus. Als das Anfang der achtziger Jahre nach Europa und Deutschland kam, waren hier die Möglichkeiten sehr beschränkt. Die ersten deutschen Jugendlichen orientierten sich an bestimmten Hip-Hop-Kultfilmen und kopierten anfänglich nur. Aber irgendwann kam die Phase, wo man nach eigenen Möglichkeiten vor Ort schaute. Zum Beispiel ist die Lackindustrie in Deutschland viel weiter entwickelt, das Angebot viel größer. Die Kreativität hat sich im Laufe der Jahre so stark weiterentwickelt, daß die Amerikaner nun nach Europa schauen. Sie sehen, daß Europa sie in der künstlerischen Entwicklung überholt hat. Heute kommen die Top-Sprayer aus Europa, im besonderen aus Deutschland. Der 3-D-Effekt beispielsweise wurde von einigen deutschen Sprayern entwickelt. Nationale Spezifika aber kann man nicht ausmachen. Die innovativsten Graffiti-Köpfe sind sehr reisefreudig. Wenn von diesen einer eine Idee hat und auf ein internationales "Sprayer"-Treffen geht, sehen das viele und bemächtigen sich der Idee. Wo eine Idee wirklich entstanden ist, läßt sich dann schwer zuordnen.


 
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