© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Pankraz,
die Bundesliga und die Entgrenzung des Theaters

Wenn Pankraz die Zeitung richtig gelesen hat, ist es jüngst in Freiburg im Breisgau wieder einmal passiert: Das örtliche Stadttheater, mit der Einstudierung eines jener neuenglischen Radau- und Provostücke ("shoppen & ficken") befaßt, "entgrenzte" die Aufführung in Richtung Publikum, die Truppe stürzte sich von der Bühne herunter ins Parkett und auf den anliegenden Marktplatz, rüpelte das Publikum an, behelligte Zuschauer und Passanten – und fing schließlich selber handfeste Aggressionen ein.

Die Zuschauer schlugen zurück, es setzte Keile für die Schauspieler. Doch eben dies war offenbar der Zweck der Übung. Artig bedankte sich die Theaterleitung am Ende für die Prügel, die ihre Protagonisten bezogen hatten. Die Provokation sei gelungen, hieß es, alle Zuschauer seien erfolgreich zum "Mitmachen" animiert worden, mehr könne gutes Theater nicht verlangen.

Solche "Entgrenzung", solche "direkte Einbeziehung des Zuschauers", ist ein uralter Traum jeder Schauspielerei. Schauspielerei und "richtiges Leben" sollen eins werden, und sie können auch eins werden, wird suggeriert, denn wir seien ja auf der Bühne des Lebens letztlich allesamt Spieler, die nachahmen und sich maskieren, die sich selbst und anderen etwas vormachen.

Sicher, im Verlauf des Lebens teilt sich die Kommunikationsgemeinschaft unaufhörlich in Spieler und Nichtspieler auf, in Akteure und bloße Gaffer, welche sich gleichzeitig anmaßen, Schiedsrichter zu sein, Akklamateure oder Buhrufer. Aber geht dabei nicht etwas verloren, und zwar das Entscheidende? Innigster Traum des Mimen ist es jedenfalls, wenn und daß die Zuschauer so enthusiasmiert werden, daß sie mitspielen wollen, daß die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum eingerissen werden und sich alle miteinander zu einer ekstatischen Spielgemeinschaft vereinen, zur wahren, unerhörten Feier des Seins, wo das Proszenium gleichsam zum Altar wird, auf dem sich alle symbolisch zum Opfer darbringen.

Alle sonstigen Äußerungsmomente des Zuschauens, wie sie die Kommunikationstheoretiker aufsammeln: der spontane (oder auch dirigierte) Beifall, das Verteilen von Preisen, das Aufrücken der Sieger in Tabellen, die Registratur von Rekorden – das alles ist im Grunde nur Vorform, Präludium, Ersatzhandlung; tendenziell drängte das Spiel, ob nun Sport oder Theater, zum Beifall aller Beifälle, zum Rekord aller Rekorde, hin zu einer Tabelle, in der es nur noch erste Plätze gibt.

Spiel ist "Agon", Kampf, das gilt fürs Theater mindestens ebenso sehr wie für den Sport. Auch das Theater bedarf des Beifalls, der Preise und der tabellarischen Einschätzung durch Kritiker, ja, die Graduierung des Beifalls und das Messen der Beifallgrade wird bekanntlich nirgendwo, auch im Sport nicht, so eifersüchtig genau gemessen und so zeremoniell exekutiert wie im Theater. "Ich hatte gestern dreizehn Vorhänge", erzählt der Mime oder der Opernsänger stolz, und das ist noch viel existenzhaltiger als wenn ein Sportler sagt: "Ich halte nun schon seit zwei Jahren den deutschen Rekord", oder der Präsident eines Fußballklubs: "Wir stehen ganz oben in der Bundesliga".

Theater und Sport durchdringen sich, und in beiden Sphären werden dauernd sogenannte Unbeteiligte "hineingezogen". Wo man auch hinblickt: Überall werden Zuschauer zu Mitspielern und schließlich zu reinen Spielern gemacht, und umgekehrt geben dauernd Spieler ihre "Profikarriere" auf, werden zu Amateuren und mitunter und zuletzt zu reinen Zuschauern. "Profi", "Amateur" bzw. "Laie": das sind ja nur weitere Bezeichnungen für die an sich schier unüberblickbaren Differenzierungen im Spiel des Lebens.

Wir sind ständig irgendwo "Profi" und irgendwo "Laie", und die Diplome, die wir mit uns führen, die Leistungsscheine und Ernennungsurkunden, sind im Grunde reine Masken, die nicht im entferntesten unser wahres Profi- bzw. Laientum widerspiegeln, es sind Spielzeuge im genauen Sinne des Wortes. Beim "wahren Spiel" nun aber, versichern uns die Enthusiasten der Entgrenzung, braucht man keine Spielzeuge mehr, denn alles ist dort Körper, Hingabe, Offenbarung.

Indes, muß man sich dabei unbedingt prügeln, wie jetzt in Freiburg vorexerziert? Und wenn ja, wäre das nicht ein starkes Argument gegen die Entgrenzung? Ein Fußballspiel wird keineswegs erst komplett, indem die Hooligans mit Latten und Flaschen aufeinander losgehen, im Gegenteil, die Orgie der Gewalt rückt die Kämpfe und Triumphe der Akteure auf dem Spielfeld ins Verächtliche und total Sittenwidrige. Und so auch im Theater.

Niemand hat das genauer gewußt als die alten Tragöden. Gerade weil sie zeitlich noch nahe an archaischen Zuständen siedelten, weil ihnen noch voll gegenwärtig war, daß die Spiele, sowohl die Olympiaden als auch die Tragödien, aus blutigen Opferriten hervorgegangen waren, daß sie in gewissem Sinne eine Überwindung, eine Symbolisierung und Sublimierung dieser Riten waren, hielten sie die Realität auf Distanz, waren sehr auf Unterscheidung zwischen Spiel und ritueller Realität, zwischen fiktivem Bühnenblut und realem Opferblut bedacht.

Ihre Schauspieler steckten hinter starren Masken, selbst noch die Silenen und Nymphen der grellen, orgienähnlichen Satyrspiele, mit denen ein Schauspielzyklus abgeschlossen wurde. Die emphatische Feier der Zusammengehörigkeit von Bühne und Publikum, die sich nach einer gelungenen Aufführung spontan einstellen mochte, blieb eine rein geistige. Und just darin drückte sich "Kultur" aus, dieses Etwas, das Griechen und Barbaren voneinander trennte.

Mag sein, daß heute, im Zeitalter digitaler, televisionärer Distanzen überall, die Sehnsucht nach Entgrenzung und Vermischung beim jungen Theater besonders groß ist. Die grundsätzliche Differenz zwischen Spiel und Gewalt verschwindet deshalb aber nicht.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen