© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Erotikmesse "Venus 99" in Berlin: "Branding" löst "Piercing" als Körperschmuck ab
Der Kick fürs Ehebett
Ronald Gläser

Dolly Buster gibt Autogramme und signiert ihre Plakate. Vor dem Messestand bildet sich eine unendliche Schlange. Wer ist wohl so verrückt, sich da anzustellen? Beladen mit Tüten und Taschen schlendern Menschen wie du und ich durch die Berliner Messehallen. Auf der "Venus 99" präsentieren sich die "Erotic- und Hardcore"-Unternehmen der Porno-Branche.

Hier findet man, was im heimischen Schlafzimmer schon lange fehlen soll. Und an den glücklichen Gesichtern der Messebesucher scheint man erkennen zu können, ob sie nur einige der Gratismagazine oder gar eine formschöne Plastikpuppe abgegriffen haben. Ist ja bald Weihnachten ...

Die Beate Uhses und Dolly Busters dieser Welt machen Milliardenumsätze mit Filmen, Magazinen und Salben wie "Flutschie", der neuartigen Gleitcreme. Zu den verkäuflichen Accessoires gehören auch Peitschen, Fesseln, riesige Holzkreuze (zum Anketten) und moderne Videokabinen für Sexshops, mit "der neuesten Digitaltechnik", wie der Hersteller versichert.

Zum Hauptspielzeug der erwachsenen Messegäste avancieren Vibratoren wie der "Fürst der Nacht" oder die "Kleine Raupe Nimmersatt". Rund 20.000 Berliner informieren sich an einem einzigen Wochenende über die Innovationen, Preisknüller oder Konzepte in der Erotikbranche.

Zurück in der Messehalle führt ein Sex-Vertrieb eine "Bodypainting"-Aktion durch. Man kann sich auch "piercen" lassen. Die absolute Innovation heißt aber "Branding", das Auftragen von Brandmalen also. Daß das Tragen von Ringen früher ein Symbol der Versklavung war, stört dabei ebensowenig wie die Tatsache, daß man Brandmale als Kennzeichen für die eigene Viehherde nutzt.

Das Publikum ist erstaunlich jung. Viele Pärchen scheinen sich den Kick fürs Ehebett zu besorgen. Als ein junger Mann allen Ernstes mit einem Kinderwagen die Messehallen betreten möchte, wird er allerdings abgewiesen. Trotzdem ist vieles, was angeboten wird, hart an der Grenze zur Kinderpornographie, wie etwa der Streifen "Küken. Der Traum jedes Mannes".

In der "Sittengeschichte Roms" schrieb Ludwig Friedländer, man begegne in der ganzen römischen Literatur "kaum einer Äußerung des Abscheus, den die heutige Welt gegen diese unmenschlichen Lustbarkeiten empfindet". Damals waren es Gladiatorenkämpfe, von Löwen verspeiste Christen und öffentliche Steinigungen, die die Herzen der Menschen höher schlagen ließen. Wie werden Historiker in 2.000 Jahren wohl über Flutschie, Gina Wild und Piercing urteilen?

Die Macher der Messe schützen sich mit einem Feigenblatt: Sie haben einen Künstler engagiert, der Ölbilder malt und den kulturellen Aspekt hervorheben soll. Abends versammelt sich die Branche zur Verleihung der "Venus". Der Porno-Oscar wird in Kategorien wie "Bester Film", "Beste Regie" oder "Beste Nachwuchsdarstellerin" vergeben. Spezialpreise wie "Bester homosexueller Darsteller" oder "Beste Internetseite" dürfen nicht fehlen.

Zunächst aber referiert ein "Doktor der Sexualwissenschaft" über seine Arbeit. Seit Jahren beschäftige er sich mit den kulturellen, kommerziellen, visuellen und akustischen Apekten der Sexualität. "Es geht doch immer nur um das Eine," so das Fazit des selbsternannten Akademikers, der auch vor einer Verächtlichmachung Papst Johannes Paul II. nicht zurückschreckt: "Der will doch seinen ’Jogi‘ auch nur überall reinschwingen." Der Applaus der rund 1.000 Gäste scheint ihm recht zu geben.

Kann eine Kulturnation tiefer sinken? Sie kann. Ein Moderator verspricht "pralle, peppige Paarungsparties". Und ein Transvestit verspricht: "Sicher findet der eine oder andere noch den passenden Tagesabschlußbegleiter." Das Publikum ist ein Querschnitt aus Regisseuren und seriösen Geschäftsleuten einerseits sowie Videothekenbesitzern und Bordelltürstehern mit Goldkettchen andererseits.

Mit Angehörigen der letzten Gruppe gerät der JF-Reporter aneinander, als ein Zweimetermann lautstark und bedrohlich mitteilt, seine Sicht sei durch uns behindert. "Ich muß hier arbeiten", lautet die Antwort. Er erwidert: "Wir auch. Wir sind nämlich ... Pornoproduzenten." Die Antwort kommt so unsicher, daß jeder merkt, daß sie erlogen ist. Was für Menschen glauben eigentlich, jemanden beeindrucken zu können, indem sie von sich behaupten, sie seien Pornoproduzenten?

Am Nachbartisch stehen ein junger Mann und eine Blondine, deren Aussehen, Frisur und Minirock stark an Kelly Bundy erinnern. Als auf der Bühne ein frauenfeindlicher Witz gerissen wird, ist das Publikum aus dem Häuschen. Auch der Freund der Dame klatscht begeistert. Diese wirft ihm einen giftigen Blick zu und teilt ihm in unfreundlichen Worten, die hier nicht hergehören, mit, daß er die kommende Nacht allein verbringen müsse.

Endlich werden die Preise verliehen. "Gina Wild" trägt eine Venus davon und bekennt: "Ich bin ziemlich geplättet." Auch Habibi, der "hammerharte und zugleich gefühlvolle" Homo-Star, obsiegt in den Augen der Jury. Der Preis ist eine Nachbildung des Torsos der "Venus von Milo". Ohne es zu ahnen, haben die Veranstalter dem Satz "Pornostars brauchen kein Gehirn" neue Bedeutung gegeben.

Am Ausgang werden Einladungen zu einem Casting von Nackttänzern verteilt. RTL2 sucht männliche und weibliche Nachwuchsstripper für seine Sendungen. Und es demonstriert doch noch eine Handvoll "unzufriedener Moralapostel", so abfällig ein Vertreter der Pornobranche. Nicht die linke PorNO-Bewegung der achtziger Jahre sondern eine Zahl von "Christen für die Wahrheit" protestieren gegen die "schockierenden, tabubrechenden und abstoßenden Darbietungen". Sie haben ein Transparent entrollt: "Hier werden Sie scharf gemacht – für den nächsten Ehebruch, für die nächste Vergewaltigung". Doch die Besucher der Messe versuchen die kleine Demo zu ignorieren. Ein Messegast brüllt: "Ich hab’ gerade eine vergewaltigt. Haha."


 
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