© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Deutsche Einheit: Zehn Jahre nach dem Mauerfall sind viele Bürgerrechtler aus dem Bewußtsein verschwunden
Ihre Stimmen wurden immer leiser
Paul Leonhard

Das Wort "Wende" nimmt Kaplan Frank Richter auch zehn Jahre nach dem Mauerfall nicht in den Mund. Das habe Krenz geprägt. Was im Herbst 1989 geschah, ist und bleibt für den Dresdner Kirchenmann eine friedliche Revolution. Nur wer die Ereignisse auch so benenne, erkenne die Leistung der Bürger an, die auf die Straße gingen, als es noch gefährlich war.

Am Abend des 8. Oktober war Richter auf der Prager Straße in Dresden auf die Polizisten zugegangen und hatte so den Weg des Dialogs zwischen Bürgern und Staatsmacht geebnet. An jenem Tag bildete sich aus der Masse der Demonstranten die "Gruppe der 20", die in dieser kritischen Situation das Gespräch mit SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer aufnahm.

Berghofer etablierte sich später schnell als Berater westdeutscher Unternehmer. Was ist aber aus jener "Gruppe der 20" geworden? Bis auf wenige Ausnahmen sind ihre Mitglieder später wieder in der Anonymität verschwunden, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen.

Eine Ausnahme bildet der heutige Dresdner Oberbürgermeister Herbert Wagner. Der Katholik rückte für Richter in die "Gruppe der 20" nach, wurde deren Sprecher. Nur wenige Frauen und Männer des Herbstes 1989 in Dresden konnten sich Posten in der Landesregierung oder im Landtag erobern. Landtagspräsident Erich Iltgen beispielsweise war einst Leiter des Dresdner Runden Tisches. Steffen Heitmann, ehemals Berater der "Gruppe der 20", ist seit 1990 sächsischer Justizminister. Er machte seine Erfahrung, als er während seiner Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten von Richard von Weizsäcker und anderen auf schmähliche Weise vorgeführt wurde.

Vom Demokratischen Aufbruch stieß Hans Geisler zur CDU und sitzt ebenfalls seit 1990 im Kabinett von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Weniger erfolgreich war Arnold Vaatz. Der Diplom-Mathematiker war bis Februar 1990 der Pressesprecher des Neuen Forum in Dresden. Dann verkündeten er und weitere Mitstreiter des Neuen Forum wie der heutige Umweltstaatsekretär Dieter Reinfried ihren Eintritt in die CDU. Ein Schritt, der zur Spaltung der Bürgerbewegung führte.

Vaatz wurde nicht glücklich dabei. Er rieb sich im Kampf mit den alten "Unionsfreunden" der DDR-CDU auf, die viele christdemokratische Kreisverbände noch heute prägen. Zwar wurde Vaatz zum Minister ernannt und avancierte zum Leiter der Staatskanzlei. Bald jedoch machte sich der Querulant auch bei "König Kurt" unbeliebt und wurde in das Umweltministerium abgeschoben. Heute sitzt Vaatz als Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

Viele Bürgerrechtler waren vor dem Mauerfall brave BRD-Bürger. In den Parteien gebe es ein paar Vorzeige-Ossis, in den Universitäten fehlen ostdeutsche Professoren und bei der Besetzung repräsentativer Posten werden sie auch benachteiligt, beklagte dieser Tage die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Angelika Barbe und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Allenfalls in Wahlpositionen halten sich Ostdeutsche. Ihre praktischen Machtbefugnisse sind aber gegenüber der Verwaltung beschränkt.

Das treibt immer mehr einstige Bürgerrechtler in den Rückzug. Ohnehin ist von den basisdemokratischen Strukturen wenig geblieben. Ein paar Reste des Neuen Forum in einer Handvoll Gemeinden, ein bündnisgrüner Landesverband: Oft widerständliche Menschen, deren Stimme im lauten Heute nicht mehr durchdringt. Ehrliche Männer und Frauen, aber zu umständlich in einer Zeit der schnellen Worte. Wenn Landtagspräsident Iltgen forderte, die "fruchtbaren Impulse aus der Vergangenheit auch beim Gestalten des Neuen" nutzbar zu machen,so war das ehrlich gemeint und doch eine Worthülse. Ein Blick ins Internet hätte genügt, wo die Landesverwaltung Biedenkopf als Urheber der Revolution in den drei einstigen Regierungsbezirken Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) feiert.

Das im Herbst 1989 auf der Straße gewonnene Selbstbewußtsein schwand angesichts der kräftigen Umarmung des großen Bruders. Was als Umsturz einer bestehenden politischen und sozialen Ordnung begann, bekam sehr schnell ein fertiges System übergestülpt. Das war weder Schuld der West- noch der Ostdeutschen, sondern vor allem der aktuellen Situation in Europa geschuldet. Instinktiv hatte Bundeskanzler Helmut Kohl das winzige historische Zeitfenster genutzt, in dem sich Rußland die DDR abkaufen ließ, der deutschen Einheit zustimmte und seine Besatzungstruppen abzog.

Eine Entwicklung, zu der weder die Menschen in der DDR noch die Führer der neu entstandenen Parteien und basisdemokratischen Organisationen etwas beitragen konnten, die sie nicht einmal einzuschätzen vermochten. Zudem waren die Helden der deutschen Revolution auf dem diplomatischen Parkett vollkommen unbekannt.

Zu schnell geschah auch die Anpassung, als daß sich wirkliche Führungspersönlichkeiten herauskristallisieren konnten. Die jahrzehntelange Praxis, mißliebige, kritische Menschen in den Westen abzuschieben, wirkte sich nun auch negativ auf die Revolution aus. Die außer Landes gejagten Regimekritiker und Schriftsteller waren nur einer Minderheit der Gebliebenen bekannt, nicht aber im Volk verwurzelt, oder hingen wie Stefan Heym noch nach dem Mauerfall, als längst schwarz-rot-goldene Fahnen über den Köpfen der Demonstranten wehten, sozialistischen Ideen an. Wer sich aber gegen Währungsunion und deutsche Einheit stellte, war spätestens im Dezember beim Volk unten durch.

Mit dem Mauerfall räumten die DDR-Bürger zwar noch nicht die Straße, aber sie entdeckten sehr schnell die neuen Freiheiten und den westdeutschen Konsum. Das wollten sie haben. Da die DDR der Bundesrepublik beitrat und das Ganze aus der Portokasse finanziert werden sollte, schienen neue Ideen nicht gefragt. Gestandene Verwaltungsbeamte kümmerten sich um das neue Gebiet. Die dabei zu beachtenden Paragraphen waren zu kompliziert, als daß diejenigen, die gerade einen Umsturz vollbracht hatten, sie beherrschen konnten. Die einheimischen Bürgermeister und Landtagsabgeordneten mußten sich mit westdeutschen Dezernenten und Beratern umgeben. Wer das mißachtete, wurde ganz praktisch bestraft: Er blieb im Förderdschungel stecken. Ein anderes Phänomen dämmerte den mit Buschzulage in den Osten geschickten Westbeamten: Die treuen Diener des Verwaltungsapparates der Ex-DDR funktionierten nach den gleichen Prinzipien wie sie selbst. Wo es klemmte, waren Stellen, auf die die Revolution Quereinsteiger gespült hatte, die noch hinterfragten, die mitbestimmen wollten, statt sich einfach nur anzupassen und zu funktionieren. Die Bereinigung erfolgte rasch.

Der Alltag sei von den Gesetzen bestimmt gewesen, die aus dem Westen übernommen wurden, resümierte Thüringens Wissenschaftsministerin Dagmar Schipanski (CDU) in einem Interview. Aus Westdeutschland stammende Bürger hätten diese Gesetze wiederum verwaltet. Tendenz steigend. Dabei sei die Stimme der Ostdeutschen immer leiser geworden, "weil wir aus den neuen Bundesländern uns mit der neuen Situation erst einmal auseinandersetzen mußten und alles überhaupt erst erlernen mußten".

So sind die mutigen, engagierten Frauen und Männer des Herbstes 1989 zurückgetreten und zurückgetreten worden in die Masse des Volkes, aus der sie für wenige Wochen und Monate mehr oder minder zufällig herausgetreten waren. Trotzdem haben auch die einstigen Oppositionellen und Regimegegner zum Großteil die Chance genutzt, sich beruflich im neuen Gesellschaftssystem zu verwirklichen. Die Anlässe, die sie zu Staatsfeinden machten, sind verschwunden. Aber die große Potenz, die ihr gesellschaftliches Engagement mit sich gebracht hätte, ist vertan. Ein Verlust für Deutschland.

Insofern hat der Mitbegründer des Neuen Forums, Rolf Henrich, bekannt geworden durch sein Buch "Der vormundschaftliche Staat", recht, wenn er gegenüber einer Leipziger Zeitung die 89er Revolution als die "dümmste, die es je gegeben hat", bezeichnet: "Alle Plätze auf den entscheidenen Führungsebenen hielt man für die Westdeutschen frei…", sagt der Rechtsanwalt.


 
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