© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Interview: Der Würzburger Soziologe Lothar Bossle feiert seinen siebzigsten Geburtstag
"Demokratie braucht einen geistigen Kompaß"
Jakob Kaufmann

Herr Bossle, anläßlich Ihres 70. Geburtstages findet an diesem Freitag in der baden-württembergischen Landesvertretung in Bonn ein Symposium zum Thema "Die Zukunftsfähigkeit der Demokratie und des Christentums im Dritten Jahrtausend – Siegt der Zauber der Freiheit oder der Mythos der Gleichheit?" statt. Haben die Deutschen sich nicht genau vor zehn Jahen vom "Mythos der Gleichheit" verabschiedet?

Bossle: Der "Myhtos der Gleichheit" ist keineswegs mit der DDR untergegangen, sondern überlebt die zwei totalitären Diktaturen unseres Jahrhunderts auf deutschem Boden und wird uns mit aller Sicherheit in das 21. Jahrhundert begleiten. Seit der Französischen Revolution von 1789 ist die Melodie des Gleichheitsmythos nicht mehr verklungen, weshalb er derzeit die illusionären Vorstellungen über die Funktionsfähigkeit einer egalitären Demokratie und den Starrsinn der Gleichheitsutopie beflügelt. Doch wie Elisabeth Noelle-Neumann glaube auch ich an die historische Unverdrossenheit, mit welcher die Menschen auch immer wieder dem Zauber der Freiheit erliegen, vor allem, wenn sie ihnen fehlt. Gleichheit und Freiheit sind gleichsam die dialektischen Bewegungsgesetze der modernen Geschichte.

Sie haben sich mit der Soziologie des Sozialismus und der Revolutionen in verschiedenen Veröffentlichungen beschäftigt. Welche Faktoren haben nach Ihrer Ansicht zum friedlichen Umbruch von 1989 beigetragen?

Bossle: In meiner "Soziologie des Sozialismus" habe ich 1976 bereits festgestellt, daß Marx alle seine Anhänger auf dem Weg zur Umsetzung seiner Lehre ratlos dastehen läßt, weil er ja nur eine antikapitalistische Zerstörungs-, aber keine sozialistische Aufbaulehre entwickelt hat. Deshalb war ich schon immer davon überzeugt, daß nicht nur die DDR, sondern das ganze sowjetische Imperium zusammenbrechen werden, wenn Moskau seine expansive Strategie aufgibt und die Menschen in Leipzig, Budapest und Warschau keine Angst mehr vor russischen Panzern zu haben brauchen. Die DDR war doch nur eine sowjetische Vorpostengesellschaft auf deutschem Boden, wie mein unvergeßlicher Berliner Lehrer Otto Stanuner uns Studenten immer sagte.

Am 9. November wird nicht nur der Öffnung der Mauer, die Deutschland teilte, gedacht, sondern auch der sogenannten Reichskristallnacht von 1938. Mit welchen persönlichen Erinnerungen verbinden Sie dieses Datum?

Bossle: Dieses Ereignis verbinde ich lebensgeschichtlich als Anlaß zur anhaltenden Trauer. Am 10. Nobember 1938 fuhr meine Mutter mit mir in das benachbarte Städtchen Landstuhl in der Pfalz, um mir ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen, wozu es aber nicht kam, denn die SA war gerade dabei, die jüdischen Geschäftshäuser zu verwüsten und ihre Besitzer mit ihren Familien auf die Straße zu treiben. Bei diesem unfaßbaren Anblick habe ich als neunjähriger Junge zum erstenmal in meinem Leben politisch geweint. Seitdem begleitet mich die bittere Gewißheit, daß barbarisches Verhalten der Horde immer wieder eine Chance findet.

War dieser "Ausbruch der Barbarei", wie Sie ihn einmal nannten, ein Schlüsselerlebnis, das sie dazu motivierte, später Ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dienst zweier Konstanten zu stellen, der Demokratie und des Christentums?

Bossle: Die Sehnsucht nach einem Leben in einem demokratischen Rechtsstaat hatte ich schon in der Nacht des "Dritten Reiches" empfunden. Schließlich hatte ich dreimal zusehen müssen, wie die Nazis meinen Vater verhafteten. 1945, das war daher für mich die Befreiung vom Totalitarismus und der Aufbruch in die Freiheit. Seitdem bejahe ich als Christ wie als Soziologe die repräsentative Struktur der deutschen Demokratie, selsbst wenn ich sie wie jetzt bei einem Blick auf die Regierungsbank nicht gerade in guten Händen weiß. Sorge bereitet mir freilich, daß seit 1968 die repräsentativen Grundlagen unserer Verfassung dem Ansturm einer plebiszitären Aushöhlung ausgesetzt sind. Und ich weiß, daß auch die pluralistische Demokratie einen geistigen und moralischen Kompaß benötigt. Diese Grundorientierung ist für mich der christliche Glaube und ein Wissenschaftsverständnis, das von den drei Säulen der europäischen Kultur bestimmt ist: Glaube, Wissenschaft und Technik, ohne die Preisgabe eines Elements.Um die Kontinuität der Demokratie als Kulturauftrag zu begreifen, sehe ich in meinen leitenden Stellungen in der Margret Böveri Stiftung für Demokratieforschung, der Gertrud von le Fort Gesellschaft zur Förderung christlicher Literatur und im Studienzentrum Weikersheim eine Lebensaufgabe.

In Ihrer Abschiedsvorlesung bemängelten Sie die Lähmung an den Universitäten. Wo machen Sie diese aus?

Bossle: Mit dem Jahr 1968 begann die Zerschlagung der deutschen Universität, wie sie Humboldt geschaffen hatte. Damals wurden unseren Schulen und Hochschulen Strukturen aufgebürdet, die das Bildungsverständnis von Humbodt nicht mehr zulassen. Die technologischen, naturwissenschaftlichen, rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge sind zwar noch effizient geblieben, weil sie konkreten Herausforderungen ausgesetzt sind. Aber die Geistes- und Sozialwissenschaften marodieren – von vielen Ausnahmen abgesehen – dahin und kriegen ihre Entbehrlichkeit durch Stellenkürzungen bescheinigt.

Worin liegen die Ursachen dafür?

Bossle: Mein jüdischer Lehrer Ernst Fraenkel an der FU in Berlin hat 1967 in seiner Studie "Demokratie und Universität" vorausgesehen, daß die Universitäten in den Ruin getrieben werden, wenn man sie nach dem Prinzip der "direkten Demokratie" umfunktioniert. Und der Münchner Philosoph Helmut Kuhn stellte 1968 in seinem Buch "Rebellion gegen die Freiheit" fest, daß unsere Universitäten nicht von Professoren und Studenten, sondern von geistigen und politischen Außenseitern kaputtgemacht werden. Hierin sind als damalige Warnungen, die man leichtfertig in einem Zustand des Modernisierungsfiebers übersehen hat, die Ursachen für unsere Universitätsmisere zu erblicken.

Derselbe politische Wille hat auch die Medienlandschaft durchdrungen. Sie haben sich in Ihrem Buch "Videologie als Zerstörung der Gewaltenteilung" mit dem Desinformations- und Kampagnen-Journalismus beschäftigt. Stellt diese Art von Journalismus eine Gefahr für die Demokratie dar?

Bossle: Im Sinne einer soziologischen Gewaltenteilungslehre dürfen wir nicht von drei, sondern von sechs Gewalten sprechen: Massenmedien, Gruppen und Verbände, Parteien, Parlament, Regierung und Rechtsprechung. Die gegenwärtige Gefährdung des Gleichgewichtes in der modernen Demokratie sehe ich im Bündnis zwischen der ersten und der sechsten Gewalt. Die Medien und die darauf reagierende Rechtsprechung erdrücken die übrigen Gewalten und verengen dadurch die Spielräume für tiefgreifende Entscheidungen.

 

Dr. phil. Lothar Bossle, emeritierter Professor für Soziologie, wurde am 10. November 1929 in Ramstein/Pfalz geboren. Er promovierte 1965 und lehrte von 1970 bis 1998 an der Pädagogischen Hochschule Lörrach und an der Universität Würzburg. Er fungierte als Ordinarius und Mitvorsteher des Instituts für Soziologie und als wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Demokratieforschung.

Wichtigste Buchveröffentlichungen: "Soziologie des Sozialismus" (1976), "Vorwärts in die Rückgangsgesellschaft" (1979), "Beethovens Sieg über Lenin (1992)".


 
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