© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Wir hatten es endlich geschafft!
Jörg Fischer

Mein persönlicher Tag des Mauerfalls ereignete sich nicht erst am 9. November, sondern schon zwei Monate früher: Am 11. September 1989 um 0 Uhr öffnete sich für mich und Tausende andere Deutsche aus der DDR endgültig die inzwischen löchrig gewordene ungarisch-östereichische Grenze. Seit Ende August war ich zu Besuch bei Freunden in Budapest und wartete auf eine Gelegenheit, von Deutschland nach Deutschland zu kommen. Ich wußte, für Oktober war der Reformparteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei geplant, und spätestens dann war mit einer Lösung in der deutschen Flüchtlingsfrage zu rechnen. Die erste Gelegenheit – das Paneuropäische Picknick im August – konnte ich nicht nutzen, das sollte mir nicht nochmal passieren.

So stand ich am Abend des 10. September in der Menschenmenge an der Kirche in Budapest-Zugliget, als Frau Csilla von Boeselager vor den Kameras der Weltpresse die Ankündigung des damaligen ungarischen Außenministers Gyula Horn übersetzte: "Die DDR-Bürger können mit ihren DDR-Pässen ausreisen ..." Nach diesen Worten gab es nur noch einen Gedanken: Raus! Gegen 23 Uhr erreichte unser blauer Lada 1600 mit Höchstgeschwindigkeit die noch kleine Warteschlange vor dem ungarischen Grenzübergang bei Hegyshalom. Wir überprüften das Auto, es war trotz der rasanten Fahrt heil geblieben. Pünktlich um Mitternacht öffneten die freundlichen Grenzer den Schlagbaum – die Freude und der Jubel werden mir unvergeßlich sein. Für wohl alle in dem riesigen Fahrzeugkorso hatte sich ein Lebenstraum erfüllt! Die Fernsehaufnahmen dieser Nacht vermitteln heute leider nur einen schwachen Eindruck von der überwältigenden Stimmung. Nach einer kurzen Slalomfahrt durchs Niemandsland wurden wir am österreichischen Übergang Nickelsdorf schon erwartet, und von da an war von österreichischen und deutschen Stellen alles perfekt organisiert: Autokarten, Benzingutscheine, Getränke usw.

Ohne Pause erreichten wir am frühen Morgen zu viert die Grenze bei Passau – nur ein weißer Toyota war schneller gewesen. Wir hatten es endlich geschafft! Zum Nachdenken ist wohl keiner in diesen Stunden gekommen, die Freude und Zuversicht waren einfach grenzenlos! Daß ich Weltgeschichte miterlebt hatte, wurde mir erst im nachhinein bewußt. Eines bleibt für mich von diesen Stunden bis an mein Lebensende: Große Dankbarkeit gegenüber dem ungarischen Volk, seiner damaligen Regierung und allen anderen Helfern. Diese Menschen haben mit ihrem damaligen Handeln den entscheidenden Anstoß zu den weiteren Umwälzungen des Wendejahres 1989 gegeben – das sollten wir Deutsche niemals vergessen.

Der 9. November 1989 hingegen war für mich ein zunächst ganz unspektakulärer Tag, ich besuchte mit einem Kollegen eine Geburtstagsfeier in Ettlingen bei Karlsruhe. Ausgerechnet an diesem Tag kam ich erstmals seit langem nicht dazu, Radio oder Fernsehen einzuschalten. So bekam ich erst am nächsten Morgen die sensationelle Meldung aus Berlin mit: Die Mauer ist gefallen!

Ich wollte es zunächst gar nicht glauben, denn auf den Straßen hier im Südwesten Deutschlands war von dem weltgeschichtlichen Ereignis nichts zu merken. Doch es war Wirklichkeit – wer hätte das vor drei Monaten gedacht?

Erst allmählich erfaßte ich, was diese Nachricht nicht nur politisch, sondern auch für mich persönlich bedeutete: Es war endlich wieder möglich, ohne Schwierigkeiten die Eltern, Freunde und Verwandten zu treffen. Für mich kam der Tag allerdings erst eine Woche später, denn ich hatte seit Mitte September eine neue Arbeitsstelle auf der schwäbischen Alb und konnte nicht sogleich Urlaub machen. Da fand ich mich in guter Gesellschaft – auch die meisten Besucher aus der DDR fuhren erst am Wochenende oder nach der Arbeitszeit.

Ach ja, Mobiltelefone waren vor zehn Jahren noch kein Allgemeingut, also war der Weg zur Telefonzelle der nächste Gedanke. Doch seit Ende September waren die Leitungen meist überlastet, und am Tag nach dem Mauerfall war gar kein Durchkommen mehr möglich ...Auch so banal kann man Weltgeschichte in der süddeutschen Provinzerleben.


 
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