© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Die Straßen der Imperialisten
Stefan Giebler

Ich war gerade einmal zwölf Jahre alt, genau das richtige Alter, um so richtig vor Idealen zu glühen. Als überzeugter Kommunist war ich natürlich, als ich von den Demos in Leipzig und Dresden und von der Rat- und Hilflosigkeit, mit der die Staatsführung darauf reagierte, verblüfft, glaubte keinesfalls die Zahlen von weit über zehntausend, sondern glaubte eher an eine Finte westlicher Medien, die, das wußte schließlich jeder, der sich den "Schwarzen Kanal" von Schnitzler ansah, logen, was das Zeug hielt.

Ich hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wogegen diese Leute eigentlich lautstark skandierten, denn nach meiner Meinung konnte bei uns jeder sagen, was er wollte. Es war nun nicht so, daß ich immer die öffentliche Meinung teilte, bei uns sei alles in Butter gewesen. Ich sah ja unsere Hauptstraße, die einmal wahrscheinlich um die Jahrhundertwende und dann noch mal nach Kriegsende gemacht worden war, ich sah das einst herrlich barocke Schloß im Herzen unserer Kleinstadt zerfallen, aber wenn ich etwas dagegen in unseren Diskussionen am Pioniernachmittag vorbrachte, dann hieß es in meinen Beurteilungen nicht etwa "subversives Element", sondern "er übt kritisch-konstruktive Kritik".

Und als dann schließlich der 10. November 1989 angebrochen war, hatte ich natürlich alles verpaßt. Man kann es sich zehn Jahre danach nicht mehr vorstellen, wenn man heute mit einem einzigen Mausklick und einer Adressenangabe eine Wasserquelle in Afrika via Internet beobachten kann, aber diese Pressekonferenz mit Schabowski – es wäre ein großer Zufall gewesen, wenn jemand aus meiner Familie sie gesehen hätte. Wir hingen nicht ständig vor dem Fernseher, wir hatten andere Sachen zu tun.

Schlußendlich wußte auch niemand, wie die Maueröffnung ausgeht, ob nicht schon am nächsten Tag russische Panzer die Antwort geben würden, wie sollte da jemand, der sich schon einmal arg am Staat gerieben hatte, riskieren, auf gut Glück 130 km zu fahren und sich dann die Frage gefallen zu lassen, was er eigentlich am Abend um 22.00 Uhr in Berlin zu suchen gedachte?

Nein, keine Sensationen, weder am 9. noch am 10. November, nur mein Klassenlehrer, der Sport und Deutsch unterrichtete, war wohl am 9. November abends in Berlin (West!), aber am nächsten Tag pünktlich zurück.

Dann schließlich, zwei Wochen nach dem Mauerfall, als schließlich jeder außer mir begriffen hatte, daß es keine DDR mehr geben würde, setzte mein Vater es durch, daß wir nach Westberlin fuhren. In Schönefeld stiegen wir von Wartburg auf MAN Doppelstockbus um. Als DDR-Bürger konnte man mit dem Personalausweis in Berlin und wahrscheinlich auch sonst überall in Deutschland verschiedene Dinge, so zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel, kostenlos in Anspruch nehmen. Ich konnte weder verstehen, wie man dieses Almosen in Anspruch nehmen, noch, wieso man diese entwürdigende Prozedur des Anstehens um das Begrüßungsgeld erst eingehen konnte. (Wir standen etwa eine Stunde an der Berliner Bank in Rudow an und als mir ein Yuppie von seinem Schalter eine Tüte Gummibären anbot, wie man im Zoo einem Affen eine Banane hinhielte, wenn es erlaubt wäre, schlug ich dies brüsk aus.

In Berlin sah ich zunächst alles durch die ideologische Brille. Natürlich waren die Straßen und Häuser in wesentlich besserem Zustand – aber, fragte ich mich und hielt in Gedanken den Zeigefinger hoch, lohnte es sich wirklich, sich für gut befahrbare Straßen den Imperialisten zu unterwerfen? Das kritische Auge fand dann auch bald das, was es suchte, nämlich beim Begehen eines U-Bahn–Hofes. Verschmierte Wände, Böden voll von Erbrochenem, herumlungernde Punker und Müll, wohin man sah. Aha!, dachte ich mir, ich wußte es also schon immer.

So brachte dieser erste Besuch in erster Linie Bestätigung der ostdeutschen Propaganda, und erst bei weiteren Besuchen, als mir widerstrebend dämmerte, was alle anderen längst wußten, nämlich daß der Osten endlich wieder dahin kommen würde, wo er hingehört, nämlich in ein freies und einiges Deutschland, konnte ich dem Westen langsam etwas Positives abgewinnen. Inzwischen, im zehnten Jahr nach dem Mauerfall, bin ich zum Renegaten geworden. 1990 noch Gegner der Wiedervereinigung und Anhänger der PDS, bin ich heute jemand, der sich ehrfürchtig vor jenen verneigt, die damals mehr als ihr Leben riskierten und auf die Straße gingen (das, wovon die 68er Gutmenschen immer nur sprachen, es aber nie taten, sondern sich mit der ostdeutschen Diktatur arrangierten und deshalb um so neidvoller auf die Bürgerrechtler blicken und die Ereignisse von ´89 darauf reduzieren wollen, daß die DDR-Bürger nur an das Westgeld wollten), vor jenen, die den Unkenrufen der intellektuellen Möchtegern-Avantgarde zum Trotz alle Energie in die Wiedervereinigung steckten und stecken.


 
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