© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Die Mauer voller Menschen
Eckart Kaspar

In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag hielt es mich um 0.30 Uhr nicht mehr vor dem Fernseher. Unglaubliche Bilder, davon mußte ich etwas miterleben. Ich wollte zum Brandenburger Tor, stellte den Wagen kurz hinter der Siegessäule ab. Als erstes begegnete mir ein junges, strahlendes Paar, das seine kleinen Kinder in Ost-Berlin gelassen hatte, den weiten Weg zum Kurfürstendamm zu Fuß gehen wollte.

Von weitem sah ich die Mauer voller Menschen, kam durch Verkehrsabsperrungen, Russen sahen zu, wie ihr Denkmal von West-Berliner Polizisten durch Gitter gesichert wurde, weiter dann Fernsehen in einer Menschenmenge, die sich auffallend ruhig verhielt, eigentlich den Ereignissen nicht angemessen, wohl deshalb, weil es noch nicht faßbar war. Aus nächster Nähe dann das ständige Hinauf und Hinunter auf der Mauer von beiden Seiten, eine Fahne mit herausgeschnittenem DDR-Zeichen, eine Gruppe, die rief "Erich, wir treten Dir die Türe ein", das symbolhafte Schlagen eines Meißels an der Mauer, tanzende Menschen um das sonst völlig abgesperrte Brandenburger Tor.

Von hier bin ich zur Invalidenstraße gegangen, vorbei an den Gedenkkreuzen der Mauertoten hinter dem Reichstag, sinnlos abgeknallt oder ertrunken wie der kleine türkische Junge. Und heute ist die Mauer durchlässig für alle. Am Durchgang, der sonst fast nur Diplomaten geöffnet ist, viele Menschen, klatschend, winkend, strahlend, erfreute und ergriffene Gesichter, DDR-Autos hupend, Blumen und Sekt. So mitteilungs- und gesprächsfreudig habe ich fremde Menschen noch nicht erlebt. Die Begeisterung ist hier überschäumend, ganz anders als am Brandenburger Tor. Die Polizisten versuchen, mit witzigen Anordnungen den Verkehr einigermaßen regelmäßig zu gestalten. Von meinem Platz auf einem Grenzgebäude der Befestigung auf Ost-Berliner Gebiet aus hatte ich einen guten Überblick in die Abfertigungsanlagen. Ein nicht abreißender Strom von Fußgängern und Autos, vereinzelt auch Taxen, der aus dem Halbdunkel ins grelle Licht drängt und schiebt, der sich vor dem Durchschlupf, der etwas mehr als wagenbreit ist, staut, wegen der Enge und der nach drüben strebenden West-Berliner, man mischt sich, man beklatscht und begrüßt sich, klopft sich auf die Schulter. Über ihnen, auf einem Mauervorsprung, versuchen ein höherer Ostgrenzer, ein West-Berliner Polizist und ein englischer Soldat das Durcheinander gemeinsam auf erträgliche Weise zu regeln; gelingt es ihnen nicht, erschallt auf West-Berliner Seite der Ruf "Einreise, Einreise", worauf man sich nach drüben zwängt, ohne Ausweis, mit Fahrrädern, was bisher nie statthaft war, dann umgekehrt der Ruf "Ausreise, Ausreise" und das gleiche vollzieht sich westwärts, vorbei und unter den Augen weiterer Grenzwächter und Zöllner, die in Gespräche verwickelt werden, sich freundlich zeigen, vom Wachturm herunterlachen, als sie ständig fotografiert werden. Welche Furcht hatten sie oft früher bei vielen, auch Westlern, verbreitet.

In einer Ecke unter mir, am Metallgitterzaun, drängten sich vier junge Grenzsoldaten. Ich hatte sie bisher nicht bemerkt und wurde erst durch ihr Lachen auf sie aufmerksam. Das unglaubliche Durcheinander schien auch ihnen zu gefallen. Wie schnell ein Wandel der Einstellung vor sich gehen kann! Wie oft haben sich diese jungen Leute sicherlich auch verstellen müssen!

Hier bestimmten Ost- und West-Berliner das Geschehen, die Ordnungskräfte waren überrollt, sie konnten noch nicht einmal mehr reagieren. Mir ging ein Spruch aus dem Sport durch den Kopf: "Hier wird ein Staat vorgeführt."

Mir erzählte hier auf der Grenzbefestigung jemand, es soll mit Ost-Berlinern begonnen haben, die nach Bekanntwerden der Regelung vor ihrer Paßkontrollstelle standen und riefen "Wir wollen raus". West-Berliner hielten sich zunächst vor dem Grenzstrich auf, gingen zögern auf die Grenzer zu, sprachen mit ihnen, drängten weiter, überhörten Hinweise, schließlich gab es eine Lücke, die kurz danach bei völliger Hilflosigkeit ganz aufriß. Den durchbrechenden West-Berlinern rannten nun die nicht mehr zu haltenden Ost-Berliner entgegen.

Am nächsten Abend machte ich einen Ku‘damm-Bummel: Zusammengebrochener Verkehr, unübersehbare Fußgänger, Schauen, Staunen, Drängen.

Am Sonnabend morgen am Bahnhof Wannsee viele viele Ost-Berliner. Es fällt schwer, Brötchen zu kaufen, wenn die Vorbeigehenden die üppige Auslage nur bestaunen können. Am Nachmittag mußte ich ungedingt ins Olympiastadion zum Spiel Hertha BSC gegen Wattenscheid, weniger des Spiels als der Stimmung wegen. Bei der Begrüßung ein unbeschreiblicher Aufschrei der fast 50.000, davon über 10.000 eingeladene Ost-Berliner.


 
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