© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Kegeltour nach Braunlage
Friedhelm Grabe

Die Planer unserer damaligen Kegeltour hatten bewußt Braunlage als Ziel ausgesucht, um mal wieder die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze zu sehen. Was sich jedoch in der Zeit vom 9. bis 12. November 1989 ereignete, war zum Zeitpunkt der Planung nicht vorhersehbar. Insofern steigerte sich das Interesse an der politischen Entwicklung im Ostblock und vor allem in der "DDR" seit dem Sommer ´89 zunehmend.

Der durchgetrennte Stacheldraht an der ungarisch/österreichischen Grenze im Juni, die in die Feiheit ausreisenden DDR-Bürger im September waren für die Regierenden alarmierende Zeichen und der Beginn einer Lawine, die nicht mehr aufzuhalten war. Sie setzte sich fort in den zunehmenden Ausreiseströmen im Oktober und in den Montagsdemonstrationen in Leipzig.

Als wir uns an jenem 9. November im Speisesaal des Hotels Maritim trafen, gab es einen regen Austausch zum neuesten Stand der Lage. Es entwickelte sich die Hoffnung, daß sich an der naheliegenden Grenze "etwas tun könnte". Mit dieser erhöhten Motivation machten wir uns am nächsten Morgen auf die sowieso geplante Wanderung zum fast 1.000 Meter hohen Wurmberg. Es war ein sonniger, warmer Tag, der auch bei den "Nichtwanderern" die gute Laune steigern half. Was würde uns auf dem Gipfel erwarten? War der Berggasthof überhaupt geöffnet? Ja, und er war nicht nur offen, sondern mit fröhlichen, ausgelassenen Menschen überfüllt. Darunter waren auch etliche Bürger "von drüben", aus dem Städtchen Schierke und der Umgebung. Sie waren bereits über eine der wenigen Grenzöffnungen hierher gekommen. Mir ihnen führten wir überschwengliche Gespräche über die wundersame Entwicklung in den letzten Stunden, sahen gemeinsam vom Aussichtsturm zum Brocken rüber und auf Schierke. Und vergossen Tränen der Freude und der Hoffnung auf ein bald wieder vereintes Deutschland.

Im Gasthof gab es Gott sei Dank genügend "Schierker Feuerwasser", um auf diesen langersehnten Mauerfall und auf die gemeinsame Zukunft anzustoßen. Ich mußte aus der emotionellen Stimmung heraus einige markige, patriotische Sätze "loswerden", die mit einem "Hoch" auf unser gemeinsames Deutschland begossen wurden. Umarmungen und Verbrüderungsszenen schlossen sich an. Dieses Erlebnis zu beschreiben, ist nur schwer möglich.

Am nächsten Morgen suchten wir den früheren Straßenübergang von Braunlage nach Schierke auf. Dieser war aber noch unverändert verschlossen. Auf einem nahen Beobachtungsturm hielten zwei Grenzer mit einem Fernglas Ausschau. Ich ging bis an den Grenzzaun und rief – um mal die Reaktion zu testen – durch meine zum Sprachrohr geformten Hände: "Wie ist die Stimmung?" "Korrekt!" war die kurzpräzise, aber doch unsichere Antwort. Es war dort ein Kommen und Gehen, aber auch Hin- und Herfahren von Trabis und Wartburgs. Unser 1,90 Meter großer Clubpräsident wollte unbedingt mal in einem Trabi am Steuer sitzen, was ihm zu seinem und unserem allgemeinen Vergnügen vom Besitzer auch erlaubt wurde. Auch hier gab es stimmungsvolle, gegenseitige Zurufe und kurze Gespräche über die Freude dieser Erlebnisse und das Leid der jahrzehntelangen Trennung.

Als wir am 12. November mit Aufenthalt in Bad Harzburg heimfuhren, sahen wir lange Autoschlangen und viel Volk in den Straßen und vor den Banken und Geschäften. Viele DDR-Bürger machten ihren ersten Ausflug in den Westen, um mit ihrem Begrüßungsgeld Bananen – die bald ausverkauft waren – und andere drüben nicht zu erhaltene Artikel zu kaufen. Auch das war ein Bild und Eindruck, den man einfach nicht vergißt.


 
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