© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Mit Dosenbier in Tokio
Albrecht Rothacher

Den Mauerfall erlebte ich am falschen Ort, am anderen Ende des Kontinents, in Tokio als virtuelle Realität im CNN, vor Freude und Dosenbier trunken, jubelnd, weinend vor Glück und Erregung. Einer der schönsten Momente meines Lebens.

Es war unwirklich. 5.000 Kilometer weiter westlich brach die unüberwindliche Mauer, die die Köpfe und das Leben meines Volkes so verhoert hatte, zusammen. Wie von alleine und ganz ohne mein Mittun war mein politisches Lebensziel in Erfüllung gegangen.

Als frisch ausgemusterter Gefreiter hatte ich im Herbst 1975 mit dem Rad die ganze Mauer von Spandau bis Steinstücken abgefahren und mir geschworen, nicht zu ruhen, bis nicht die Mauer gefallen sei. Das Projekt hatte jedoch angesichts der unverrückbaren Härte des Objekts trotz hehrer Absicht offenkundig keine Dringlichkeit.

In einer Traumwelt bewegte ich mich 1983/84 in der Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin, die die nationale Frage aus Sicht der Friedensbewegung thematisierte und als ersten Schritt die Paktfreiheit beider deutscher Staaten forderte. Die Arbeit der Gruppe wurde von dem Stasi-Agenten Schneider, dem ersten Bundestagsabgeordneten der Linksgrünen, jedoch erfolgreich gestört und denunziert.

1989 war ich in Japan. Nachdem es im Ostblock nach den freien Wahlen in Polen im Frühjahr überall machtvoll zu rumoren begann, wurde Otto Graf Lambsdorff bei einer Pressekonferenz Anfang Oktober 1989 in Tokio nach den Chancen der Wiedervereinigung gefragt. Zur allgemeinen Überraschung verwarf er dieses Ansinnen nicht sofort, sondern meinte kryptisch, Zeit und Bedingungen seien längst noch nicht reif. Darauf suchte mich der Journalist Hasogawa des mit dem Focus vergleichbaren Magazins Aera auf, mit dem ich bislang bei der Aufdeckung der "Schweinefleisch-Mafia" von Nagoya gut zusammengearbeitet hatte. Er wollte meine Ansichten zur Wiedervereinigung wissen. Ich verkündete ihm meine Lieblingsthesen: Die Wiedervereinigung als Konföderierung beider deutscher Staaten sei näher, als irgend jemand offiziell zugäbe, beide würden ihre Militärbündnisse verlassen, demilitarisieren, mit ihren Nachbarn Friedensverträge schließen, und zur Sicherung der guten Zusammenarbeit in Europa, zum Schutz der deutschen Außenmärkte und der marktwirtschaftliche Entwicklung würde die DDR der EG als deutscher Teilstaat beitreten.

Aera veröffentlichte diese Thesen als Interview am 24. Oktober 1989. Hasegawa gewann später einen Preis, weil er als erster in Japan noch vor dem Fall der Mauer die Wiedervereinigung publizistisch vorhergesehen und recherchiert hatte.

Die gleichen Thesen vertrat ich gegenüber meinem damaligen Chef, Andries van Agt, dem vormaligen holländischen Premierminister. Er lud mich abends in seine Residenz zum Whisky ein und meinte beim Abschluß unseres langen Gesprächs, das deutsche Volk habe für den verlorenen Krieg lange genug gelitten. Es sei an der Zeit, ihm seinen gerechten Wunsch nach nationaler Einheit nicht länger vorzuenthalten. Van Agt war (und ist) in den Niederlanden sicher nicht ohne Einfluß. Seinen Nachfolger Lübbers hat er damals aber offensichtlich leider nicht überzeugen können.

Nach dem Mauerfall sprach mich der (letzte) DDR-Botschafter in Tokyo an: Die neue DDR sei an umfassender politischer und wirtschaftlicher Kooperation mit der EG in allen Bereichen, einschließlich des Handels und der Markterschließung in Drittländern interessiert. Der Ukas aus Brüssel kam prompt: Keine Kooperation mit DDR- Botschaften, die über diplomatische Höflichkeiten hinausgehen.

Im Frühsommer 1990 flog ich nach Berlin, erkletterte die Wachtürme mit ihren zerschlagenen Fenstern und noch sichtbaren MG-Lafetten. Die Kaninchen hoppelten noch im sandigen Niemandsland. Mit dem Rad durchkreuzte ich die Mauerlücken in Kreuzberg, Neukölln, das Brandenburger Tor, fuhr über die Glienicker Brücke bis Sanssouci, und schließlich über Oranienburg, Rheinsberg bis nach Wismar. Die ersten schüchternen Zeichen der Marktwirtschaft, Gebrauchtwagenhändler und Würstchenbuden, waren schon sichtbar, während Sowjetlaster auf der Straße und MIGs am Himmel noch Vorfahrt hatten.

Bei allem Entsetzen über die überall sichtbare ökologische, wirtschaftliche und bauliche Barbarei des zusammenbrechenden Regimes hatte ich doch das bewegende Gefühl, mit einiger Verspätung zwar bei einem wahrhaft geschichtlichen Moment dabeigewesen zu sein, auch wenn die Euphorie meiner mitteldeutschen Landsleute damals schon eher in allen Unterhaltungen einem vorsichtigen, leicht skeptischen Zuwarten gewichen schien.

Heute fahre ich mit meiner Familie zum Rügen-Urlaub über die unsichtbar gewordene Grenze bei Lübeck. Für die Kinder sind die Erzählungen von Grenzbefestigungen, Kontrollen und Todesschüssen und die Exponate des Museums am Checkpoint Charlie spannend-gruselige Geschichten, doch ebenso fern wie die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges oder die Zerstörung Karthagos. Zehn Jahre danach: Für sie ist die Einheit vollendet.


 
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