© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Von der Geschichte eingeholt
Simon-Moritz Lampert

Es tat sich Ungeheuerliches an jenem Abend; symbolisch mit dem Fall der Berlin Mauer brach eine das gesamte 20. Jahrhundert prägende Ideologie in sich zusammen. Für die meisten Jugendlichen respektive jungen Erwachsenen schien somit ein Stück Normalität abhandenzukommen, man wurde von der Geschichte schlicht und ergreifend zurück- und eingeholt.

Das Fatale daran aber war, daß man in keiner Weise darauf vorbereitet wurde und in der Schule nun dem Wut- und Betroffenheitsgeheul 68geprägter Pädagogen ausgesetzt war. Bislang schien doch die ganze Welt in Ordnung, hier der kapitalistisch-geprägte Westen, dort der Osten, die "DDR", in der man zwar nachweislich mit wertlosem Geld minderwertige Waren bezahlte, die aber faktisch als zweiter deutscher Staat existierte. Man lernte ebenso, daß die DDR das wohl einzige Land der Erde sei, wo die Einwohnerzahl stetig zurückging, daß dort Wahlen weder frei, geheim noch gleich waren, so daß allen Mitschülern letztlich klar wurde, daß man es mit mit einem Unrechtsstaat zu tun hatte, zumal die Reisemöglichkeiten arg beschränkt waren. Es verwundert und befremdet im Rüchblick zugleich, daß dieser Zustand nicht ein einziges Mal in Frage gestellt, sondern – im Gegenteil – durch das Nichtinfragestellen weiterhin manifestiert wurde.

So etwas geschah noch im Spätsommer ’89, als die Segel in Europa in Richtung "Wende" gesetzt wurden, die Ungeheuerlichkeit, daß meine Mitschüler und ich im Erdkundeunterricht mit dem Aufbau von LPGen, Kolchosen und Sowchosen, DDR-Bezirken etc. gepeinigt wurden. Diese Kurzsichtigkeit der meisten Lehrkörper zur Wendezeit ärgert bis heute.

Als am 9. November 1989 dann die Mauer fiel, erlebte ich dies mit dem Be-wußtsein, Zeuge eines Jahrhundertereignisses gewesen zu sein, und daß dies prägend für mich und meine Generation sein würde. Der Sozialismus-Kommunismus war tot, die Freiheit und Selbstbestimmung hatten obsiegt. Schwarz-Rot-Gold wurde zu den inoffiziellen Farben des Jahres gekürt, die Ereignisse überschlugen sich; man wurde von der Geschichte, von der man sich schon verabschiedet hatte, eindrucksvoll zurückgeholt.

Um so ärgerlicher waren und blieben im Grunde bis heute die Mahner und Bedenkenträger, die im Mauerfall wohl zumeist auch ihre eigenen Ideale und Vorstellungen in sich zusammenstürzen sahen. Alsbald wurde die Frage nach den Kosten für eine etwaige Einheit gestellt, und Plakate mit dem Schriftzug "Nie wieder Deutschland" waren im Fernsehen oft zu sehen. Nur nicht übermütig werden, hieß die Parole, zumal im Sommer 1990 Deutschland auch noch Fußball-Weltmeister wurde.

Der Rest ist bekannt; spätestens mit der zunehmenden Gewalt gegen Ausländer, mit dem Golfkrieg 1991 und der desaströsen wirtschaftlichen Verfassung der fünf neuen-alten Länder hielt die Ernüchterung Einzug. Tabus kamen und blieben, der Begriff der "political correctness" prägte den geistigen Diskurs, Versprechungen konnten nicht gehalten werden. Und dennoch, bis heute überwiegt die Freude, Augen- und Ohrenzeuge dieses Phänomens des Mauerfalls gewesen zu sein. Viel Ernüchterung folgte, aber was blieb, ist der Glaube und die Hoffnung an den Werdegang der Geschichte, die unbeirrbar ihren eigenen Weg zu gehen scheint.


 
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